Wird jetzt Professor Sunstein als Vermittler nach Kairo geschickt? Auf den Gedanken, dass so der Geheimplan der Obama-Regierung für die ägyptische Krise aussieht, konnten einen die Ausführungen des demokratischen Kongressabgeordneten Eliot Engel bei „Fox News Sunday“ bringen. Der Sprecher der Minderheitsfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Repräsentantenhauses verlangte, die Vereinigten Staaten müssten dem ägyptischen Militär einen Stupser geben, einen diskreten Hinweis, dass es sich bitte in Richtung Demokratie bewegen möge. „We need to nudge the military towards democracy.”
„Nudge“: Das war der Titel des vielbeachteten, in dieser Zeitung vorabgedruckten Buches von Cass Sunstein und Richard Thaler aus dem Jahr 2008. Es behandelt die Kunst, Leute dazu zu bringen, unangenehme Entscheidungen zu treffen, die in ihrem wohlverstandenen Interesse liegen, nicht durch Drohung und Zwang, sondern durch freundliche Nachhilfe, durch unaufdringliche Anreize und kleine Belohnungen, eben durch „Stupser“. Die Strategie, den ägyptischen Putschisten in aller Klarheit zu erklären, dass die Vereinigten Staaten aus Gründen der Selbstachtung das Massaker als Mittel der Polizeitaktik nicht dulden können, ist mit Pauken und Trompeten gescheitert, als Senator John McCain unverrichteter Dinge aus Kairo zurückkam. Nach seiner Rückkehr zeigte sich allerdings auch, dass sehr zweifelhaft ist, ob McCain wirklich für das außenpolitische Establishment seines Landes sprach, als er es ein Gebot der Staatsräson der Vereinigten Staaten nannte, einen Putsch einen Putsch und ein Massaker ein Massaker zu nennen.
So bleibt jetzt nur der Rückgriff auf Methoden der indirekten Überredung. Gerade bei hartleibigen Zeitgenossen, die sich moralische Belehrungen in verbissenem Stolz verbitten, ist die „soft power“ der listigen Manipulation des Handlungsrahmens wirksam – das ist die Pointe der Lehre vom „nudge“. Zufällig führte der Abgeordnete Engel die Vokabel wohl nicht im Mund. Sicherheitshalber setzte er das Signalwort der Sunstein-Pädagogik noch einmal ein. Es sei frustrierend, was die ägyptischen Streitkräfte, Partner der Amerikaner seit 35 Jahren, in den letzten Wochen angestellt hätten. „Ich mag es nicht, wenn sie Leute töten. Wir müssen Position beziehen und ihnen einen Stupser geben. – I think we have to stand and nudge them.“
Cass Sunstein, Rechtsprofessor in Harvard, ist ein Vertrauter von Barack Obama seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Law School der University of Chicago. In Obamas erster Amtszeit leitete er das Büro für Informations- und Regulierungsangelegenheiten der Regierung, die Behörde, die darüber wacht, dass die Stupser, die die Bürokratie den Bürgern durch Vorschriften unterhalb der Schwelle von Gesetzen verpasst, richtig dosiert sind. Als diese Zeitung Sunstein im Dezember bat, als Suhrkamp-Autor („Gesetze der Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips“, 2007) seinem Verlag einen Tipp zu geben, wie die uneinsichtigen Teileigentümer dazu gebracht werden könnten, geschäftliche Vernunft anzunehmen, lehnte er ab, weil er nach der Rückkehr von Washington nach Cambridge, Massachusetts, noch mit dem Auspacken seiner Bücher (er schreibt ungefähr fünf pro Jahr) beschäftigt war. Inzwischen könnte er die Woche für einen Kairo-Trip wohl freischaufeln – obwohl die gelehrte Welt dann vielleicht mit einem Sunstein-Buch des Jahrgangs 2013 weniger vorlieb nehmen müsste.
Leider hat der Abgeordnete Engel aber die verhaltensökonomische Rechnung ohne die Botschafterin der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen gemacht. Samantha Power ist mit Cass Sunstein verheiratet, ihr Gatte fällt für diplomatische Missionen aus. Man kann auch zu gut vernetzt sein im Politikberatungsgeschäft! Samantha Power hat sich für ihr Amt durch ebenso eingängige wie substantielle Bücher zur Theorie und Praxis der humanitären Intervention qualifiziert. Zur empirischen Probe auf die Möglichkeit der verdeckten humanitären Intervention wird es fürs erste nicht kommen.
Eliot Engel, Lehrer von Beruf, der es nicht mag, wenn ägyptische Soldaten wild in die Menge schießen, wird sich die Frage gefallen lassen müssen, wie diese robusten Burschen überhaupt merken sollen, dass sie angestupst werden. Wenn der ägyptische Botschafter in Washington diese Ausgabe von „Fox News Sunday“ gesehen hat, wird er der Putschregierung nicht gemeldet haben, dass sie Druck aus dem Kongress auf die Obama-Regierung fürchten muss. Der New Yorker Abgeordnete Engel und Senator Bob Corker aus Tennessee, Sprecher der Mehrheitsfraktion im Auswärtigen Ausschuss der oberen Kammer, schienen einen überparteilichen Konsens zu artikulieren, wonach die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zum Militär die oberste Priorität der amerikanischen Ägyptenpolitik ist.
Man überlässt es dem Partner, dafür zu sorgen, dass man sich auf amerikanischer Seite in absehbarer Zeit zur Partnerschaft wieder bekennen kann, ohne eine Miene des Bedauerns aufsetzen zu müssen. Die Wahl der geeigneten Mittel stellt man General al Sisi und den Kommandeuren seiner Schlägertruppen frei. Es sehe so aus, sagte Corker, dass die Streitkräfte in den letzten Tagen für Sicherheit gesorgt hätten, ohne es zu übertreiben. Die Dinge bewegten sich allmählich in die richtige Richtung. Die Einkerkerung des gewählten Präsidenten Mursi bot dem Bauunternehmer Corker Stoff für eine Lektion in Sachen Grenzen der Demokratie: „Wir alle wissen doch, dass wir es manchmal überstürzen mit der Demokratie. Wir möchten glauben, dass Wahlen Demokratie produzieren. Aber manchmal stellt sich heraus, dass ein Wahlsieger gar nicht regieren kann.“
Corker sprach sich im Licht der Nachrichten über einen Chemiewaffeneinsatz der syrischen Regierung für einen „chirurgischen“ Militärschlag aus. Amerika muss etwas tun – das ergibt sich für den Senator aus dem Führungsanspruch seines Landes, dem er die metaphysische Funktion einer Probe auf die Perfektibilität der Welt zuwies: „Offensichtlich ist die Welt ein besserer Ort, wenn die Vereinigten Staaten Führung zeigen.“ Ausdrücklich widersprach dieser abergläubischen Vorstellung von den automatisch positiven Konsequenzen beliebiger amerikanischer Aktionen der frühere Außenminister Colin Powell bei „Face the Nation“ auf CBS. Bezogen auf Syrien und auf Ägypten sagte er: „Wir dürfen nicht glauben, dass wir die Dinge sofort ändern können, nur weil wir Amerika sind.“ In beiden Ländern habe man es mit inneren Kämpfen zu tun, deren Ausgang die Vereinigten Staaten gar nicht beeinflussen könnten.
Die Frage, ob die Militärhilfe für Ägypten suspendiert werden soll, erklärte Powell für trivial – womit er sagen wollte, dass die Drohung mit dem Einfrieren der Kooperation angesichts der Subsidien der Golfdiktaturen für die Feinde der Muslimbrüder gar kein Druckmittel ist. General al Sisi komme auch ohne die amerikanischen Hilfszahlungen zurecht. „Wenn wir sie ihm verweigern, wird das an seinen Handlungen jetzt nichts ändern. Und wenn wir sie ihm gewähren, wird das sein Verhalten auch nicht beeinflussen.“ Powell forderte, die Vereinigten Staaten sollten die Wirtschaftshilfe an die ausdrückliche Bedingung eines Übergangs von einer militärisch beherrschten Gesellschaft zur Beteiligung aller Ägypter an den politischen Entscheidungen zu knüpfen – aber erst nach der Wiederherstellung stabiler Verhältnisse.
Nach Powells kühler Lageanalyse können die Amerikaner also genau dann ohne Euphemismen die rechtsstaatlichen Maßstäbe formulieren, deren Einhaltung sie von ihren Partnern erwarten, wenn sie sich ihre Machtlosigkeit eingestehen. Der Verzicht auf die psychologischen Tricks aus der Marketingwissenschaft muss zeigen, wie es um die Anziehungskraft des amerikanischen Beispiels bestellt ist.