Außenminister John Kerry war im inneramerikanischen Auftrag unterwegs. Und zwar gleich fünffach. Der Präsiden hatte ihn zu jedem der fünf großen Fernsehpalaver am Sonntagmorgen geschickt, um zu erklären, warum die Vereinigten Staaten nicht tatenlos dem Horror in Syrien zusehen durften, zuvor aber der Kongress seine Zustimmung für den militärischen Einsatz geben sollte. Keine leichte Aufgabe bei der Stimmungslage im Land. Denn auch nach dem Giftgaseinsatz lehnt die Mehrzahl der Amerikaner eine Intervention ab.
Kerry hat vor allem also Überzeugungsarbeit zu leisten. Und so berichtet er von neuen Indizien, unwiderlegbar, klar und noch keine vierundzwanzig Stunden alt. In Haar- und Blutproben seien eindeutig Spuren von Giftgas festgestellt worden. „Wir wissen“, sagt er ohne jeden Anflug von Diplomatie, dass der syrische Präsident Baschar al Assad den Giftgasangriff befohlen und versucht habe, ihn danach zu vertuschen. Er spricht von einem „unglaublichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, einem „überwältigenden Fall“, der keine Zweifel mehr zulasse. Bleiben die Zweifel, die Kerry an diesem Morgen auch auszuräumen versucht, nämlich die Zweifel am Vorgehen von Präsident Obama.
In seinem videounterstützten Fernsehmarathon durch „State of Union“ (CNN), „Meet the Press“ (NBC), „This Week“ (ABC), „Face the Nation“ (CBS) und „Fox News Sunday“ zieht er jedoch auch alle Register, die ihm als „Amerikas Topdiplomat“ (ABC) zur Verfügung stehen müssen. Für Klarheit, für Zweifelsfreiheit ist damit weniger schnell sorgen. Warum Obama nicht früher den Kongress eingeschaltet hat? Weil er über mehr Indizien verfügen, weil er die amerikanische Öffentlichkeit überzeugen, auch weil er keine „imperiale Präsidentschaft“ aufbauen wolle, wie Kerry im Verhör bei Fox News betonte. Ist aber Obamas überraschende Hinwendung zum Kongress nicht ein Zeichen von Unentschiedenheit, von Schwäche? „Wir können nicht verlieren, wenn der Kongress sich einschaltet.“ Was, wenn der Kongress nein sagt? Wird Obama dann doch den Angriffsbefehl geben? Als oberster Befehlshaber der Streitkräfte habe der Präsident das Recht dazu. Ob er es ausüben würde, ist von Kerry nicht zu erfahren.
Einen kraftvollen, energiestrotzenden Auftritt nach dem andern legt der amerikanische Außenminister hin und verpasst dabei nicht die Gelegenheit, Assad in einem Atemzug mit Saddam Hussein und Hitler zu nennen. Mit dem diplomatischen Lavieren aber, auf das er sich für alle Kernfragen verlässt, wird wohl kein rasanter Meinungsumschwung zu erzielen sein. Die Lage ist verfahren, obwohl unablässig über eine Linie gesprochen wird, über eine rote oder feine oder helle oder auch eine Linie im Sand. Die rote Linie, damit wollte Obama den syrischen Machthaber vom Giftwaffeneinsatz abschrecken. Jetzt, wo die Linie nicht geholfen hat, sucht der Präsident Rückendeckung bei einem heillos zerstrittenen Kongress.
„Amerika ist stärker, wenn wir gemeinsam handeln“, verkündet der Außenminister. Ausgerechnet in Bill Kristol vom neokonservativen „Weekly Standard“, dem einst der Einmarsch in den Irak nicht schnell genug gehen konnte, findet Obama nun einen Verteidiger. Es sei spät, aber richtig gewesen, den Kongress einzubeziehen, und dieser werde sich der Herausforderung gewachsen zeigen. Gerade den Republikanern würde es am Ende gelingen, die Nation über alle Parteiinteressen zu stellen. Bei Paul Rand, dem republikanischen Senator aus Kentucky, klingt das sehr viel anders. Er will nicht einsehen, wo amerikanische Interessen da betroffen sind. Folglich habe Obama mit seiner roten Linie einen großen Fehler begangen. Die Russen und die Chinesen hätte er erst auf seine Seite bringen sollen. Am besten sei es daher, einen „friedlichen Machtwechsel“ in Syrien anzustreben.
Weit entfernt von einem solch realitätsfremden Raunen ist sein Parteigenosse Mike Rogers, nicht nur Kongressabgeordneter aus Michigan, sondern Leiter des Geheimdienstausschusses, der gleich die nationale Sicherheit ins Spiel bringt. Kerrys Indizien bezeichnet er als überzeugend und findet es auch richtig, dass der Kongress zusammen mit dem Präsidenten die Verantwortung für einen Einsatz zu tragen soll. Diesmal stünden sich der Kongress und der Präsident nicht feindlich gegenüber, diesmal gehe es um die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten.
Regierungsfreundlicher als der Republikaner Rogers hätte auch Kerry nicht argumentieren können. Soviel Einigkeit und Zuversicht wollte sich in den Kommentatorenrunden allerdings nicht einstellen. Martha Raddatz, im Auftrag von ABC für die ganze Welt zuständig, suchte vergebens nach der „feinen Linie“, die zwischen Vergeltungsschlag und Krieg verlaufe. Käme es zur Intervention, was wäre für nachher geplant? Was, wenn es einen zweiten oder dritten Giftwaffeneinsatz gäbe? Eine Strategie vermochte sie nirgends zu entdecken. Katty Kay, als Anchorwoman für die BBC World News America im Einsatz, war nicht weniger verständnislos angesichts einer Handlungsabfolge, die ihr „wirr, konfus, unklar, schwach“ vorkam. „Das ist nicht Irak, das ist nicht Afghanistan“, hatte Kerry in die Kameras gerufen, aber die englische Journalistin sah im amerikanischen Hin und Her die Folgen der Verunsicherung durch die Kriege im Irak und Afghanistan.
Damit war sie nicht allein. Als nervös und isoliert wurde Amerika von Robin Wright aus dem Woodrow Wilson Center, einer der großen Washingtoner Denkfabriken, beschrieben. Auch sie vermisste jede strategische Grundlage. James Carville, Bill Clintons alter Wahlkampfstratege, sagte voraus, dass der Schatten des Kriegs im Irak länger über Amerika liegen werde als der aus Vietnam. Syrien scheint nun nichts als Ratlosigkeit hervorzurufen, unter den Politikern des Landes wie unter ihren Beobachtern in den Fernsehstudios. Ohne dazu eine Verbindung herzustellen: CBS machte mit „Face the Nation“ eine halbe Stunde früher Schluss, um aktuell bei U.S. Open dabei zu sein.