Präsident Obama bestreitet nicht, dass der Außenpolitik der Vereinigten Staaten in den letzten Wochen Disziplin und eine klare Linie gefehlt haben. In einem am Freitag im Weißen Haus geführten Interview, das am Sonntag in der Talkshow „This Week“ auf ABC ausgestrahlt wurde, konfrontierte George Stephanopoulos den Präsidenten mit Zitaten zweier Kritiker, deren Wort in der außenpolitischen Debatte Gewicht hat.
Senator Bob Corker aus Tennessee, einer der wenigen Republikaner, die ihre Bereitschaft zur Unterstützung eines Angriffs auf Syrien signalisiert hatten, äußerte gegenüber der „New York Times“ die Einschätzung, Obama fühle sich offenbar äußerst unwohl in seiner verfassungsmäßigen Rolle des Oberkommandierenden. „Es ist, als wäre er eingesperrt, als säße er in einer Falle und suchte einen Ausweg.“ Und Richard N. Haass, Präsident des Council on Foreign Relations, der New Yorker Denkfabrik, in der sich das Establishment sammelt, stellte dem Syrienpolitiker Obama ein verheerendes Zeugnis aus: „Worte wie ad hoc, improvisiert und unstet drängen sich auf. Das war wohl der disziplinloseste außenpolitische Abschnitt in der Geschichte seiner Präsidentschaft.“
Haass, ehemaliger Planungschef im State Department und Berater von Außenminister Colin Powell, der innerhalb der Bush-Regierung für die Opposition des professionellen Common sense sprach, veröffentlichte in diesem Jahr ein Buch mit dem Titel „Foreign Policy Begins at Home“, in dem er darlegt, dass die Vernachlässigung des Bildungswesens und der Infrastruktur ein größeres Risiko für Amerikas Stellung in der Welt sei als jeder äußere Feind. Diese Lehre vom (momentanen) Primat der Innenpolitik liest sich wie der Entwurf einer Obama-Doktrin. Tatsächlich stellte Obama im zweiten Teil des Gesprächs mit Stephanopoulos, in dem es um den Dauerstreit um den Bundeshaushalt ging, eine aktive Wirtschaftspolitik als Gebot der Staatsräson hin. Das hielt ihn aber nicht davon ab, Haass wie Corker der Gruppe der weltfremden republikanischen Insider zuzuschlagen, die einen frivolen Konsens des Hauptstadtdenkens artikulierten.
Dieses Denken sei auf Formfragen fixiert, ihm komme es dagegen auf die Substanz an, sagte Obama in dem vor der Genfer Einigung über den Weg zur Sicherstellung der syrischen Chemiewaffen aufgezeichneten Interview. „Die Leute hier in Washington lieben es, Noten nach Stilgesichtspunkten zu verteilen. Hätten wir etwas sehr Glattes und Diszipliniertes und Lineares präsentiert, dann hätten wir dafür von ihnen hohe Bewertungen bekommen. Wir wissen das, denn genauso haben sie den Irakkrieg bewertet, bevor er uns um die Ohren flog. Ich möchte keine Stilpunkte sammeln, mir ist die Entscheidung für die richtige Politik in der Sache viel wichtiger.” Frappant an dieser Antwort an seine Kritiker: Obama widerspricht der Darstellung nicht, dass sein Vorgehen in der Syrienkrise eine Kette von Improvisationen gewesen sei. Disziplin lässt er ausdrücklich nicht als Tugend des Regierungshandelns gelten.
Wie will man dieses trotzige Selbstbewusstsein erklären? Vor seiner Wahl versprach Obama, die Außenpolitik wieder auf die Prämisse der Fehlbarkeit aller Entscheidungen zu gründen, wie es eine Tradition des ironischen Realismus im amerikanischen außenpolitischen Denken empfiehlt, deren wirkungsvollste Formulierungen aus der Feder des Theologen Reinhold Niebuhr stammen. Dass Obama sich immer noch durch den Gedanken der „Grenzen der Macht“ (Michael Stürmer) bestimmen lässt, obwohl er gerade noch bereit war, sein Land in einen von der großen Mehrheit der Bürger abgelehnten Krieg zu führen und dabei die Zerstörung des von den Vereinigten Staaten geschaffenen Weltsicherheitsrats voranzutreiben, legt eine Nebenbemerkung im Zuge seiner wirtschaftspolitischen Ausführungen nahe. Vertraut ist das Argument, nur der Staat packe große Infrastrukturaufgaben an, weil sie sich für die Privatwirtschaft nicht lohnten. Obama präsentierte eine techniksoziologische Variante dieser Figur. Demnach stößt die Automatisierung, die doch alle Gebiete der Wirtschaft revolutioniert, an ihr Limit, wo es um die arbeitsintensive Schaffung von günstigen Bedingungen der Produktivität geht: „Roboter können keine Straßen bauen.“