Angekündigt waren wieder die inzwischen so unvermeidlichen wie unergiebigen Debatten über Obamacare. Alle Sender wollten auch am Wochenende nach Thanksgiving nicht einer weiteren Neuauflage der Kontroversen um die Gesundheitsreform und vor allem deren Anlaufschwierigkeiten entsagen. Aber dann: Breaking News, Zugunglück in der Bronx. ABC verzichtete, zumindest im New Yorker Sendebereich, auf „This Week mit George Stephanopoulos“, CBS auf „Face the Nation“, NBC auf „Meet the Press“. Live vom Unglücksort wurde berichtet. Auch wenn es bald nichts mehr zu berichten gab.
Die ganze Malaise der obsessiven Live-Schaltung entfaltete sich wie in einem absurden Lehrstück. Chronisch aufgeregte Reporter mussten zugeben, viel weniger zu sehen als ihre Zuschauer, die von zu Hause aus dank endlos kreisenden Newscoptern den Unglücksort bequem überblicken konnten. Was sie irgendwann von den Berichterstatten zu hören bekamen, wie die Waggons neben und quer zu den Gleisen lagen und die Rettungsmannschaften um sie herum wuselten, hatten sie selbst schon stundenlang beobachtet. Noch gab es keine Erklärungen für die Unglücksursache, aber Spekulationen in Hülle und Fülle. War der Zug zu schnell in die Kurve gegangen? War der Zugführer schuld? Oder der Zustand der Gleise? Oder wäre sogar ein Terroranschlag in Betracht zu ziehen? Das übliche TV-Unglückspalaver also.
Zwischendurch ein einziges Suchen und Warten. Suchen nach Überlebenden und Augenzeugen, die am Unglücksort und vor Krankenhäusern Auskunft geben könnten. Warten auf den Polizeichef, den Verkehrsdezernenten, den Gouverneur. Als Gouverneur Andrew Cuomo schließlich vor die Kameras tritt, erklärt er, dass er noch keine Erklärungen vorzulegen habe. Wer mehr erfahren wolle, solle die offizielle Nichtnotrufnummer (!) 311 anrufen. Cuomo vergisst nicht, den Angehörigen der Todesopfer Trost zu spenden. Auf jedem Sender wird sofort danach wiederholt, was der Gouverneur gerade von sich gab. Auch darin spiegelt sich das Wiederholungsprinzip, ohne das die gesamte Berichterstattung in sich zusammenbräche.
CNN immerhin hatte den Mut, „State of the Union“ nur ein paar Mal mit Live-Bildern zu unterbrechen. Candy Crowley zog wie geplant ihr Programm durch, das sich allerdings auch selbstverliebt im Wiederholungsrhythmus wiegte. Zur Debatte stand erneut Obamacare. Frische Blickwinkel? „Dramatische Fortschritte“ beim Funktionieren der Website werden aus dem Weißen Haus verkündet. Im Übrigen dürfen die vertrauten Pro- und Contra-Floskeln aufeinander prallen. Der Demokrat Howard Dean versichert: „30 Millionen mehr Amerikaner werden von nun an eine Krankenversicherung haben.“ Der Republikaner Rick Santorum stöhnt: „Ein katastrophales Gesetz.“ Demnächst wird sich das Verfassungsgericht abermals mit einem Teilaspekt beschäftigen, der zudem heikle Fragen zur Geburtenkontrolle und Religionsfreiheit anschneidet. Wie die Sache ausgehen könnte, wollte niemand voraussagen.
Frau Crowley schaffte in ihrer vom Zugunglück beschnittenen Sendzeit sogar noch einen kurzen Schwenk hinüber zur nationalen Sicherheit. „Sind wir sicherer als zuvor?“ fragte sie die beiden Vorsitzenden der Geheimausschüsse im Kongress, die Senatorin Dianne Feinstein und den Abgeordneten Mike Rogers. „Ich glaube nicht“, antwortete Feinstein, denn es gebe heute mehr Terrorgruppen als je, mehr Zerstörungstechnik, mehr Hass auf Amerika, mehr Fundamentalisten. Darauf Rogers: „Ich stimme absolut zu.“ Und im Hinblick auf die Überwachungskontroversen im eigenen Land und draußen in der Welt fügte der Abgeordnete hinzu: „Unsere Geheimdienste sind nicht die bösen Jungs.“ Mit Kritik an ihnen würden wir sie nur daran hindern, ihre Aufgaben konzentriert zu erledigen.
Für Fox News, den Nachrichtenkanal, der sich erst am Nachmittag in die sonntägliche Debatte mischt, war das Unglück schon Geschichte. Kein Wort davon fiel bei Chris Wallace, der sich in „Fox News Sunday“ hauptsächlich auf Obamacare eingestellt hatte. Seine Gäste waren Neera Tanden vom Center for American Progress und James Capretta vom American Enterprise Institute, die sich mit Zahlen und Statistiken bekriegten und so auch wieder darüber hinwegtäuschten, dass der Kampf um Obamacare in Wirklichkeit ideologischer Natur ist. Soll der Staat sich um die Gesundheit seiner Bürger mitkümmern? Oder soll jeder selbst für sein Wohlergehen verantwortlich sein? Wie viel knackiger ist doch der tägliche Test, ob die Website funktioniert oder nicht.
Zwischen Obamacare und einer lustigen Truthahngeschichte blieb noch ein bisschen Zeit für General Michael Hayden, ehemals Direktor der CIA wie der NSA. Er hatte wenig anzubieten, um die Komplikation aufzulösen, die Afghanistan, der Iran und China derzeit für die Vereinigten Staaten bereithalten. Klare Töne nur fand er in einem knappen Schlussschlenker, der Berichten über ein „Doomsday Cache“ galt, einem Hort von Supergeheimnissen, die enthüllte würden, sollte Edward Snowden verhaftet oder sein Leben bedroht werden. „Was dieser sehr narzisstische junge Mann getan hat“, so Hayden, „ist eine Katastrophe für die Sicherheit und Sicherung der amerikanischen Nation.“ Um Zustimmung im Land, im Kongress und im Weißen Haus brauchte sich der General keine Sorgen zu machen.