Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Bluten für den Luxus

Der Neoliberalala, der Freund von Premium, Business Class und Powerdenglisch, hat zwei Todfeinde: Das eine ist der Kommunist; der heisst üblicherweise Gregor oder Oskar und schreibt für das Neue Deutschland, oder er heisst Sarah und isst gerne Hummer. Das ist der Klassenkampf von unten. Hm. Also, mehr oder weniger. Und dann gibt es noch den Klassenkampf von oben. Den betreibt der andere Todfeind, der Erzreaktionär. Dem reicht schon eine einzige kleine Nadel, und er schreibt einen bluttriefenden Blogeintrag bei FAZ.net.

Et odor vestimentorum super omnia aromata.

Carlo Filago (1589-1644), Quam pulchra es

Ich blute. Bevor ich den Schmerz überhaupt begreife, verfärbt sich der Stoff des Hemdes rot.

Zum Rudelverhalten überheblicher Geschäftsklassenreisender und anderer subalterner Sachbearbeiter gehört das schnelle Einkaufen, das sog. “Shoppen” von irgendwelchen Dingen, die sie auf Reisen vergessen haben. Dergleichen unter Termindruck bei den üblichen Markennamen zu tun, ist ein Statussymbol in einer Zeit, da auch bildungsferne Schichten in ihr Mobiltelefon plärren, dass nicht das Flugzeug, sondern der ungleich routinierter nach Meilen und mehr klingende “Flieger” “mal wieder nicht on schedule” ist. Der Einkauf unterwegs ist hochgradig mit dem Komplex der möglicherweise finanziellen, nicht aber gesellschaftlichen Aufsteiger verknüpft, und ernährt und erhält in seiner Verschwendung Kreditkartenfirmen, Flughafenboutiquen, und, wie meinesgleichen erfreulicherweise gerade in der Finanzkrise erleben darf, den Schuldnerberater. Dabei wollte sie doch nur mobil, flexibel und global sein: Die moderne Funktionselite, deren Bedeutung es nicht erlaubt, alle störenden Nichtigkeiten vom Zebrastreifen bis zum Fremdwort Danke zu beachten; müssen sie doch von Termin zu Termin eilen, weil es ohne sie nicht, unter keinen Umständen gehen würde.

Manche werden mir jetzt vielleicht nachsagen, ich würde diese Leute hassen – aber es stimmt nicht. Solche Leute hasst man doch nicht. Was ich wirklich hasse ist, wenn ich durch eigenes Verschulden, in einem Anzug steckend, gezwungen bin, auf die Schnelle unterwegs etwas Vergessenes zu kaufen. Ich hasse es, man könnte denken, ich selbst sei auch nur so ein schmie[Edit: Sehr geehrter Herr Porcamadonna! Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir wegen 7 (!) ungebührlicher Bezeichnungen einer soziale Randgruppe 21 Punkte von Ihrem Verbalinjurienkonto abziehen und den ganzen Passus streichen müssen. Ihre Verträglichkeitsbeauftragte Eulalia Josefine Hinzengruber], und ich bin heilfroh, dass ich wenigstens genug Bargeld hatte, um das Hemd nicht wie so einer mit Karte zahlen zu müssen. Und weil es so übel mit Konsumversprechen zugekleistert war, habe ich es auch gleich abgelichtet:

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Und was sie einem nicht alles versprechen! Modell LH-Dandy. Sind wir nicht alle ein klein wenig Oscar Wilde? “Casual Luxury” steht auf einem mitbezahlten Stofffähnchen mit Knopfloch, das hinter einem natürlich mit Markennamen versehenen Knopf steckte. Nicht nur, dass man diesen “schlampigen Überfluss”, wenn ich das Denglische korrekt eindeutsche, mitbezahlt. Nein, es ist trotz seiner Verkündigungsmission immer noch das dezenteste Hemd mit den wenigsten Torheiten für die Mülltonne. Die anderen hatten ein blaues Band – bekannt als Trophäe, nach der Luxusschiffe <strike>wie die Titanic </strike> [Edit: Bedaure, da bin ich wohl einer Legende aufgesesen] bei der Ozeanüberquerung greifen wollten – mit dem eingewebten Wort “Luxury” in der Verpackung. Überhaupt haben inzwischen alle Hemden, die nicht gerade in den Arbeitslagern des chinesischen Mörderregimes zusammengenäht und für fünf Euro verschleudert werden, diese neumodischen Glupperl anstelle von Nadeln, um sie in der Verpackung zu fixieren. Glupperl mit Kugeln am Ende, damit man sich nicht verletzt. Oder sie anderweitig verwendet.

Meine Grossmutter hätte es sehr ungnädig beurteilt. Geboren im Bayerischen Königreich, hat sie wie alle in dieser Zeit bei ihrer Mutter und Grossmutter noch Nähen gelernt. Es war damals nicht nur üblich, Näharbeiten selbst zu besorgen. Die Familie hätte, wie man in Bayern sagt, das “Gred”, die üble Nachrede bekommen, wenn sie nicht selbst Monogramme, Borten und Tischdecken hätte sticken, häkeln und nähen können. Meine Oma hat das alles als Kind gelernt, und es gab nichts, was sie nicht mit Stoff hätte machen können. Von ihrer eigenen Grossmutter hatte sie ein Nähtischchen mit Mahagonifurnier geerbt, das heute seit 140 Jahren seinen Dienst in der Familie tut. Und weil man, wie der Volksmund in Bayern sagt, von den reichen Leuten das sparen lernen kann, hat sie verlangt, dass man Stecknadeln beim Kleidererwerb nicht einfach wegwirft, sondern ihr bringt, auf dass sie in das rote Samtkissen mit der Rosshaarfüllung verbracht werden. Auch aus Schutz für den Käufer: Sieben Nadeln stecken in jedem Hemd, sieben Nadeln muss man finden und zählen, dann sticht man sich nicht.

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Nadeln kann man immer brauchen. Meine Grossmutter hatte sogar einen grossen, U-förmigen Magneten, mit dem sie heruntergefallene Nadeln aufsammelte. Man darf nicht vergessen: Noch im 19. Jahrhundert waren Nadeln sehr teuer, und der Nadelmacher ein handwerklicher Beruf. Für Nadeln brauchte man beste Materialien, um sie dünn, elastisch und gleichzeitig stabil zu gestalten; sie durften nicht zerbrechen, und wer jetzt mit den Schultern zuckt, möchte sich überlegen, wie er mit der Technik des 19. Jahrhunderts ein Öhr in die Nadel bekommt. Gar nicht so einfach: Früher bestanden Nadeln aus zwei zusammengesetzten, verdrillten Stahldrähten. Eine Arbeit, die Kraft und enorme Geschicklichkeit erforderte. Eine Arbeit, die in England am Beginn der Erforschung der Arbeitsteilung und der industriellen Produktion stand: In “The Wealth of Nations” rechnet der schottische Ökonom Adam Smith vor, wie stark man die Produktion steigern und die Kosten senken kann, wenn man die Herstellung in einzelne Schritte teilt und von Spezialisten durchführen lässt. Trotzdem war es ein weiter Weg von der Nationalökonomie der Aufklärung über die Kurzwarenläden meiner Grossmutter bis zu meinem Hemdenkauf, bei dem Klammern anfallen, die man nur wegwerfen kann. Es sind diese Dinge, es ist diese unsägliche, oktroyierte Verschwendung von Rohstoffen, Produktion und Energie, weshalb der Unterschied zwischen mir und den oben beschriebenen Cre[Edit: Herr Porcamadonna!!! E.J.H.] allenfalls ein relativer ist. Der Umstand, dass ich mir solche Probleme bewusst mache, ändert nichts am Abfall, und die Frage, die ich mir beim Auswickeln solcher Konsumprodukte stelle, lautet: Wer ist eigentlich schlimmer? Das konsumgeile Werbeopfer, das wegen Luxusanhängern für die Mülltonne gerne mehr zahlt, oder der Käufer, der das alles kennt und trotzdem so unsagbar dumm – was ist denn das Rote auf dem Hemd?

AAH!

Hinten, in der Mitte, dort, wo ich an der Kartonfüllung mit Kraft zerrte und mit einem weiteren Klammer rechnete, war dann doch eine einzige Stecknadel. Erst im Stoff, dann im Finger.

Ich weiss nicht, ob die Pein die Rache des vermutlich grenzenlos beleidigten Adam Smith ist, ein Hinweis meiner verärgerten Grossmutter oder einfach nur der Zorn der Schöpfung, aber ich habe die Nadel aufgehoben und in den roten Samt gesteckt, wo es kaum auffällt, wenn noch ein wenig von dem Blut dran ist, das ich für Lügen gab, die nur Idioten für erstrebenswert halten.