Liebe Mädchen, ihr werdet so gut wie ich gehört haben, dass es niemand Schande bringt, sich in geziemender Weise seines Rechts zu bedienen. Das natürliche Recht eines jeden, der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben, soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen.
Pampinea in der Einleitung des Decamerone von Giovanni Boccaccio
Eigentlich wollte ich meine Freundinnen – wie ich Kinder aus der Zone hinter dem progesellschaftlichen Schutzwall – über die Probleme der Mesalliancen ausfragen, aber das ist im Moment nicht so einfach. Nur ein kleiner Teil der Deutschen hat sein Geld noch in Aktien angelegt, doch hinter dem Schutzwall leben die, die der Pest der Finanzkrise schutzlos ausgeliefert sind, und täglich mit ansehen müssen, wie geliebte Anteile scheinbar unzerstörbarer Stützen des Systems bröckeln, stürzen und in sich zusammensinken. Und wo man früher leise über unerklärliche Vaterschaftsfragen tuschelte, tauscht man heute die traurigen Geschichten des eitrigen Depotabflusses aus. In allen Häusern trauert ein Vater um den Gegenwert eines kleinen Sportwagens, und in mancher Villa ist ein reicher Erbe betroffener, als er beim Reichtum bringenden Todesfall war. Es scheint keinen Schutz zu geben, und Schlimmeres kündigt sich an: Schwärende Beulen der Ratingabstufung für die geschätzten Nachbarn Spanien, Italien, Portugal und Griechenland; Irland in den letzten Zuckungen, und Dänemark wünscht, das giftige Blut seines Geldes einzutauschen gegen den scheinbar sauberen Euro. Gibt es überhaupt noch das britischen Pesopfund? Und statt die Tore zu verrammeln vor dem Veitstanz der amerikanischen Infektion und britischer Krankheit, hörte ich, dass nun auch ganz Europa Schulden machen will, um den Mitgliedern zu helfen, die eigentlich zu krank sind, um im Euro zu bleiben, aber ihn rechtlich nicht nach unten verlassen können.
Was? fragten da die Gefährtinnen aus dem schönen Bayern, die dank der unermesslichen Weisheit unserer Staatspartei schon für die Bayerische Landesbank und deren Verluste in Ungarn, Polen, Österreich und anderen Balkanländer aufkommen müssen. Nun auch noch eine Anleihe, die alle kassieren, aber absehbar nur wenige bezahlen werden? Und das in einer Zeit, da man ohnehin nur noch zwei Wochen beim Skifahren ist und Taschen vom letzten Jahr aufträgt?
Vor der 1348er Pest konnte man davonlaufen, aber wie versteckt man sich in 661 Jahre später in der EU vor den Begehrlichkeiten der EU? Und in dieser Not hatten wir eine rettende Idee: Wie wir ja alle wissen, wird die EU mittels des Karl des Grossen “gebranded” und mit dem Karlspreis beworben. Karl der Grosse war zwar ein widerlicher Tyrann und Gewaltherrscher; er unterwarf die Langobarden, die sich selbst bis dahin ohne Hilfe von aussen abgeschlachtet hatten, und er setzte den bayerischen Herrscher Tassilo III. ab, um ihm 794 in Frankfurt einen Schauprozess stalinistischer Prägung zu unterziehen. Trotzdem gilt Karl den Gebildeten als erster Einiger Europas; übrigens unter sträflicher Missachtung des Hunnen Attila, der sich auch nicht mieser benahm, sogar einen grösseren Teil Europas unterjochte und brandschatzte, aber zu seinem Pech vergass, wie Karl eine kirchliche PR-Agentur seinen Ruhm mehren zu lassen. Wir jedenfalls haben beschlossen, dass es an der Zeit ist, die Vereinigung Europas nicht nur in der Nachfolge der Karolinger herbeizuführen, sondern auch zu vollenden und damit die Probleme der Finanzkrise von uns abzuwenden.
Die Vollendung der karolingischen Einheit wurde im Jahre 843 mit dem Vertrag von Verdun erreicht. Hier können Sie die Karte sehen: Die Vollendung war eine vollendete Reichsteilung. Wir nun haben bei Tee und Tegernseetorte beschlossen, dass uns dieser Plan ausnehmend gut gefällt und mit ein paar Modifikationen auch zur Schaffung einer krisenfreien Zone innerhalb der EU geeignet wäre. Konkret schwebt uns eine Art neues Lotharingien der besten Regionen vor. Wir hätten darin gerne die fleissigen Niederländer und den flämischen Teil von Belgien, gerne auch mit dem reizenden Bad Spa und den Ardennen. Damit lösen wir auch den belgischen Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, denn zweitere werden wie auch das bankenverseuchte Luxemburg dem neuen Westfrankenreich von Nicolas I. (dem Kurzen) zugeschlagen. Weiterhin nehmen wir über Aachen das Rheinland beginnend bei Bonn, das die Ehre hat, wieder Hauptstadt zu werden. Die Mosel würde uns auch gefallen, der Hunsrück und überhaupt das Rheintal bis nach Baden-Württemberg, das uns als arbeitsam und ertragreich erscheint. Ausserdem wollen wir das wohlgeformte Elsass.
Hessen dagegen ist nicht ganz so einfach: Eigentlich wollten wir die Region Frankfurt mit seinen kriselnden Banken und Opels und dem lärmenden Flughafen dem sächsischen Ostreich unter Angela I. zuschlagen – der Name Sachsenhausen etwa zeigt eindeutig, wo das hingehört. Wir sind aber auf mein Drängen hin überein gekommen, die Grenze östlich des Gallusviertels zu ziehen: Mein Arbeitgeber bliebe bei uns, die Banken – wer ausser Berliner Politikern will schon Banken in diesen Zeiten, fragen Sie Susis Papa nach seinem Depot – kämen wie Fulda und Rüsselsheim und Bremen und das Ruhrgebiet und das ganze Land, das da im Norden und Osten liegt, zum sächsischen Grossreich, woraus man ein vorzügliches Stammesherzogtum machen kann. Wir haben uns natürlich auch mit dem Problem der deutschen Einheit beschäftigt, die dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden könnte: Allein, 1989 rief man auf sächsisch “Wir sind das Volk” und nicht auf bayerisch “Wir wollen Bayern sein”, was wir gegen Ende des ersten Tortenstücks als Beleg für die Richtigkeit unserer Vollendungsbestrebungen auffassen.
Bayern käme als natürlicher Wirtschaftchampion und Global Leader in Everything auch dazu, die Franken wären damit wiedervereint, dann nehmen wir noch das Kleinwalsertal, Tirol und Österreich bis zur Grenze zum Wiener Balkan hinter dem Schlosspark von Schönbrunn, geben allerdings Kärnten auf und kassieren dafür das Veneto mit Venedig, Südtirol und die Lombardei hinunter bis zur italienischen Riviera, sowie einen Teil der Toskana, Marken und Umbrien – den Rest kann der Kirchenstaat wiederhaben, da brauchen wir erst gar nicht nach Canossa gehen, und beim aktuellen Papst aus Bayern ist das, wie man bei uns so schön sagt, eine gemähte Wiesen. Dann nehmen wir noch die Côte d’Azur, die Seealpen, die Provence und was wir sonst noch bis hoch ins Elsass brauchen. Anschliessend bieten wir der Schweiz, die sowieso de facto uns gehört – nicht umsonst sind wir so oft im schönen Graubünden, fragen Sie mal die Banken in Davos, St. Moritz und Müstair – ein Geschäft an, das sie nicht ablehnen kann: Wir treten komplett der Schweiz bei, und übernehmen damit den vom globalen Schwarzgeld gestützten Schweizer Franken als Währung. Den Euro und seine Anleihen kann Resteuropa behalten, und mit etwas Glück fällt er so tief, dass sogar die Briten ihre Pesopfunde zu vernünftigen Kursen aufgeben können. Unseren hoch verschuldeten Partnern wird unser Austritt als inflationärer Ausweg aus ihrer Schuldenkrise erscheinen – sie werden froh sein, wenn wir Sparer und Anleger nicht mehr mit Geschrei nach Geldwertstabilität nerven.
Meine Freundinnen waren jedenfalls nach zwei Stück rumgetränkter Torte vollauf überzeugt, dass dies ein schönes, angenehmes und lebenswertes Land sein wird, wirtschaftlich stark, von fröhlichen Menschen bewohnt, voller Feriengebiete und ohne Angst vor den alten Zollkontrollen, wenn mehr als 10.000 Euro pro Person den Übertritt in die Schweiz begleiteten, multikulturell und so offen wie unser schönes Westviertel. Nur Liechtenstein, das wir bisher vergessen haben, wird den amerikanischen Steuerbehörden als Sündenbock zum Frasse vorgeworfen. Bliebe noch die Umsetzung: In wenigen Tagen ist der Schwarz-Weiss-Ball der Staatspartei, und glücklicherweise kommt der Herrscher des Landes auch aus unserer schönen Stadt, wenngleich nicht aus einem ganz so guten Viertel – Susis Papa aber kennt ihn trotzdem, und dann wird Susi unseren Plan vorschlagen. Sie wird ihn mit landestypischem Anstand bitten, den Plan unter dem Motto “Europa der Regionen” befreundeten Politikern nahezubringen, und wir sind der festen Überzeugung, dass in Berlin niemand trauern wird, wenn Bayern durch die Reichsteilung nicht mehr in der Lage ist, in der schwersten Wirtschaftskrise seit den 2. Weltkrieg den, oder besser: ausgerechnet diesen Wirtschaftsminister zu stellen.
Im Mittelalter hat man übrigens, wenn die Pest an Orten vorbei ging, zum Dank Ketten um die dortigen Kirchen gelegt. Nachdem am Erfolg unserer Massnahme, ein ganzes Land zum geeinigten Westviertel zu macht, nicht gezweifelt werden kann, wäre es eine hübsche Verneigung vor dieser Tradition, gleich noch eine dicke Kette in Auftrag zu geben, die man um unser ganzes, schönes Lotharingien legen kann. Unsere Lösung ist solide, überzeugend und nachhaltig – schon die originale Teilung hatte 12 Jahre Bestand, das ist 624 mal länger als der wochenendorientierte Planungshorizont Ihres Abgeordneten. Wir würden uns deshalb freuen, wenn auch Sie Ihre Politiker in unserem Bestreben, das ganz sicher auch in ihnen längst im Verborgenen nistet – schauen Sie sich nur mal die protzigen Statthalterschaften der Länder in Berlin an – bestärken könnten.
Begleitmusik: Europa teilt sich leichter, wenn man es weiter umfassend anhören kann: Charles Tessier, ein wirklich feiner Komponist des späten 16. Jahrhunderts etwa behauptete von sich, durch seine Reisen die Musik des gesamten Kontinents zu kennen, und veröffentlichte teils echte, teils wie Lehmanbilanzen erfundene Lieder, die weitaus besser klingen als jede Beteuerung unseres Wirtschaftsministers, dass es nicht so schlimm wird. Ein wirklich umfassender Eindruck von der musikalischen Fülle der Zeit um 1600 ist unter dem Titel “Carnets de voyages” als Nummer 100 beim französischen, äh, pardon, westfränkischen Label Alpha erschienen.