“In Turin erwartet man mich”, sagte er. “Neureiche, unerträgliche Leute.” Er betrachtete uns mit seinen matten Augen, lächelnd wie ein verschämtes Kind.
Cesare Pavese, Der Teufel auf den Hügeln
Sie kennen, auch wenn Sie es noch nicht ganz hinter die Mauer geschafft haben und in einem Viertel wohnen, das die Bezeichnung “Westviertel” nur usurpiert, sicher die in Ihrer Staatspartei so beliebte Herrschaftsdoktrin, mit der man sich gegen die Zumutungen der Moderne wehrt: “Das war schon immer so”. Ein treffliches Argument zur Sicherung von Vorteilen und Macht, aber als Historiker muss ich Sie leider belehren: Es stimmt nicht. Sie können das nur sagen, weil die andere Seite meist zu dumm ist, die – oder namentlich Ihre – Vergangenheit, das “schon immer” zu hinterfragen. Sie wissen schon, Sie sind noch nicht lang in der Stadt, deshalb sind Sie ja auch in einem suboptimalen Viertel, in dem man eigentlich nicht wohnt. Ihr Urgroßvater war ein Knecht, der sich mit einer Witwe den Hof erarbeitete, und davor waren Ihre Vorfahren eigentlich nichts, worauf man sich berufen könnte, wenn es um Ansprüche und Herrschaft geht. Auch die bessere Gesellschaft von heute war um 1900 meist noch in irgendeinem Kaff, und würde man diese Ihre Geschichte in unsere Zeit verlängern – wären Sie ganz sicher nicht angetan.
Ach so. Sie meinen, auch ich… nun, bitte, treten Sie ein, ich will das gar nicht bestreiten; dieses Gebäude hier ist zwar, wie sie der Bauinschrift entnehmen können, in seiner letzten Ausbauphase 409 Jahre alt, und meine Wohnung wurde sogar erst gegen 1720 eingebaut, aber es stimmt: Auch wir sind hier gerade mal 160 Jahre Besitzer. Aber auch wenn Zeitläufe, Erbgänge und Missachtung des Alten vieles an unseren Gütern verschwinden liessen, so kann ich Ihnen doch – unter all den anderen, neu zugekauften Antiquitäten – auch Reste des kleinen Glanzes meiner Familie zeigen:
Sie müssen zugeben, 160 Jahre kontinuierliches Stadtbürgertum und Besitz, das ist schon was. Ich würde nicht sagen, dass es schon immer so war, aber: “In den letzten anderthalb Jahrhunderten haben wir” – das kommt mir schon ab und an über die Lippen. Sie könnten mit solchem Beginnen bestenfalls fortfahren “noch ziemlich lange die Saumägde von Kösching gestellt, bis dann die alte, fette Erbin Eusebia Güllengruber…” Das ist auch der Grund, warum Sie immer so einsilbig werden, wenn unsereins erklärt, wie teuer 1874 der Einbau des Fischgrätparketts war, dessen Rechnung wir natürlich auch noch haben. Sie dagegen haben nichts.
Außer einem alten Problem. Das der Herrschaftslegitimation. Sie waren nichts, Sie sind was geworden, mit Villa in diesem Viertel da draußen und Drittporsche. Falls doch jemand fragen sollte, worauf sich Ihre Ansprüche gründen, sind Sie verratzt wie der Ministeriale des 13. Jahrhunderts, dessen Großvater noch Leibeigener war. Jeder weitere Aufstieg ist schwierig, wenn der Ruch des Parvenüs anhaftet, und so floh man in die Fälschung: Man sexte die Vergangenheit auf. Mönche etwa leiteten aus der Kunst der ehrenwerten Heilslehrenfabrikation die Urkundenfälschung ab, und der Ministeriale suchte sich einen fahrenden Sänger, der zusammen mit dem Dorfpfarrer Belege fand, dass der alte Clanchef schon mit Karl dem Grossen Europa brandschatzte und beim Hoftag in Frankfurt für seine Dienste ein Schwert bekam, das heute noch dort hinten an der Mauer hängt. Eine gute Geschichte und ein Gegenstand, an den man glauben kann, so funktionieren Heilige, Bankentürme und mehr oder weniger auch das Gesichtslifting Ihrer Frau, und das können Sie mit Ihrer lahmen Geschichte auch machen. In Pfaffenhofen, jeden 4 Sonntag im Monat, wie viele andere Verteter der besseren Gesellschaft, die auf der Suche nach Relikten anderer Menschen sind, um sich deren Tradition anzueignen.
Ratzen, Kakerlaken und Flöhe sind die alleinigen Gattungen, denen Ihre Familie nach dem Ende des Paläolithikums jagend nachstellte, und das ist schlecht – wissen Sie doch, dass Trophäen und Wildfleisch früher zum besseren Leben dazu gehörten. Nicht nur, dass sich auf dem Antikmarkt alte Geweihe finden; nein, in Polen hat man den Bedarf längst erkannt und fertigt alles mögliche aus Leichenteilen nach. Sie sollten dabei jedoch auch Ihre Putzfrau einplanen. Mein Opa war Jäger, und wir haben eine Kiste von dem Zeug im Keller. Die Zwölfender sind die Hölle beim Abstauben, das will man sich nicht wirklich antun. Ich habe ja überlegt, ob das nicht was für den Tegernsee wäre, aber irgendwie, als Vegetarier, nein. Und auch zu Ihren weißen Einbauschränken passt das nicht ganz. Bei den H.s war es dagegen die perfekte Ergänzung mit den Eiche Rustikal, und dank SS-Opa auch glaubwürdig.
Ich könnte ja Bücher empfehlen. Suchen Sie sich ein Spezialgebiet heraus, wie ich: Jesuitica aus der Druckerei, die bei uns im 18. Jahrhundert im Hinterhaus war, und als Gegengift französische Aufklärungsliteratur in Originalausgaben. Oh, ach so, Kirchenlatein ist nicht so Ihre Sache, und ihre Bibliothek ist der Festplattenrecorder. Nein, das würde Ihnen keiner abnehmen, da haben Sie natürlich recht.
Aber, wie wäre es mit Biedermeiermöbeln? Damit ließe sich das Erbe einer städtischen Tante erfinden, für 1000 Euro, geschenkt, damit kommt man bis 1830 runter. Die P.s haben das so gemacht, da entwickelte sich der Flohmarktfund über die Jahre hinweg zum Familienbesitz seit Generationen. Uh oh, vorsicht, nein, so dürfen Sie sich keinesfalls draufsetzen, so merkt man sofort den Parvenü. Die Lehne von Biedermeierstühlen ist dazu da, dass beim Sitzen exakt eine Handbreit Luft zwischen Rücken und Lehne bleibt. Nur so sitzt man elegant und hoch aufgerichtet, legt die Arme an und hält grazil Messer und Gabeln in den über dem Tisch schwebenden Händen – da fällt mir ein, Sie hängen doch immer mit dem Mund einen Finger breit über dem Suppenteller, in dem erst seit Kurzem das Krebsfleisch statt der Brennsuppe schwimmt? Stimmt, das geht gar nicht, dieser Tiefflug bei der Nahrungsaufnahme macht auch bei den P.s die schöne Geschichte der Erbgroßtante kaputt.
Silber, Porzellan, Gläser, Kronleuchter, feine Möbel, das alles muss man pflegen, bei Imariporzellan gilt es, am Blauweiß teure japanische Ware von chinesischen Kopien zu scheiden, da kann man sich schnell Müll ins Haus holen, und überhaupt: Sie müssten ja etwas damit anfangen, um es zu zeigen und eine passende Geschichte zu erfinden. Das ist das Schwerste: Nicht nur exquisite Dinge haben, sondern auch adäquater Stil und richtiges Benehmen. Hier werden zwar viele Familien auf der Suche nach Legenden glücklich, aber Sie, nein, das schaut schlecht aus.
Vielleicht hilft Ihnen ja ein kostenloser Trick weiter: Sagen Sie einfach, wenn Sie bei jemandem wie mir eingeladen sind, Dinge wie “Wer hat denn heute noch Bleikristall”, “So ein Service von Tante Erna haben wir weggeworfen, was soll das sein, Meissen? DDR?”, “Ach was, Silber, Edelstahl ist viel schöner”, “Schlagen Sie doch den Stuck einfach runter, ich kenne einen Polen, der das schwarz macht” und “Die Lampen da waren früher bei uns überall, aber die Putzerei war mir zu viel, wir haben sie in den Müll und Deckenfluter gekauft”. Doch, das höre ich öfters, und ich denke, das könnten Sie auch glaubhaft darstellen. Kein Mensch würde daran zweifeln, dass Sie so etwas mit alten Dingen tun, Sie, der Herr über Geschichte und Schicksale. Da haben Sie Ihre große Vergangenheit zum Nulltarif, fahren Sie heim und werden Sie glücklich, bleiben Sie der, der Sie sind und immer waren, wenn Sie im Brustton der Überzeugung, mit der Kraft vieler Generationen und den S*******-Schrank im Rücken und, vom Reichsparteitagslicht der goldenen, 249 Euro teuren Deckenfluter umschmeichelt, befehlen: Das haben wir schon immer so gemacht.
Niemand wird daran einen Zweifel hegen.