“Erlauben Sie mir zu versichern, dass ich mich für ein vom Glück sehr begünstigtes Mädchen halte. Ich bin durch und durch glücklich und amüsiere mich köstlich.”
Lucy Honeychurch in E. M. Forsters “Zimmer mit Aussicht”
Servus!
Sagt man bei uns auf dem Berg. Oder Griassdi. Oder Griass God. Glücklicherweise haben wir hier auch Berge, auf denen das absolut nicht lächerlich oder nach Art des Kommödienstadls klingt. Hier am Tegernsee. Da, wo ich wohne. Und dort, wo man wohnt.
Der Tegernsee liegt am Rande der Alpen; von Norden reist man über die Münchner Schotterebene leicht aufsteigend an, und entlang der Ufer erreichen die Berge schnell Höhen von weit über 1000 Meter. Am Südende steht der Wallberg, und dort stehe auch ich. Im Sonnenuntergang. Es ist nicht ganz hässlich, hier oben. Unten ist es auch nicht schlecht, wenn man bereit ist, für eine Wohnung in etwa so viel wie für eine sehr gute Münchner oder extrem gute Frankfurter Innenstadtlage zu zahlen. Dafür ist man in einem gigantischen Westviertel und in ein paar Minuten an einem grandiosen See, in dem die Wasserleichen sehr gepflegt aufgefunden werden, oder in den Bergen, von wo aus man in kürzester Zeit vorzügliche Kliniken erreicht, wenn man mit dem Rodel als fliegende Baumschere in einen Abgrund jagt. Ausserdem gibt es famose Friedhöfe mit reaktionären Dichtern, Nazigenerälen und einem Bundeskanzler. Und selbst die Erbtante, die nicht mehr auf den Schlitten passt, kann sich durch die besten Cafes schmausen, bis das Fettabsaugen und Liften der hiesigen Schöheitsspezialisten vom letzten aller Ärzte nach bewährter Sensenart kuriert wird, die verantwortlich für unsere Gesellschaft der reichen Erben ist.
Ich könnte tagelang über diese meine Heimat dergleichen Freundlichkeiten sagen, aber wirklich grossartig ist die Lage am Rande der Republik: Um etwa meinen verbeulten Sportwagen von Berliner Idioten am Alexanderplatz anzünden zu lassen, müsste ich 640 Kilometer fahren; um den gleichen Wagen im Parkverbot des Campo in Siena abschleppen zu lassen, sind drei Kilometer weniger notwendig. 440 hässliche Autobahnkilometer durcheile ich zum Verlagshaus der FAZ, 308 grandiose Kilometer dagegen fliegen auf dem Weg nach Riva del Garda vorbei. Am Tegernsee hat man den banaleren Teil dieses Landes hinter sich. Nur die hiesige Staatspartei lauert noch in Wildbad Kreuth, aber die hat bei der letzten Wahl schon einen Vorgeschmack auf ein politisches Schicksal bekommen, das einen gewissen Herrn Schalck-Golodkowski an die Ufer dieses wunderbaren Sees gespült hat.
Wie schon gesagt, ich könnte tagelang erzählen, aber ich denke, ich erkläre den See, seine Fremdheit und seine allgemeine Gültigkeit für uns alle nicht im Grossen, sondern im Kleinen an seiner sehr spezifischen Umsetzung eines jüdischen Vermächtnisses. Den Juden nämlich ist eine Erziehungsmethode zu verdanken, die für hiesige Verhältnisse erheblich modernisiert wurde: Am sogenannten Wochenfest Schawuot, das an die Übergabe der zehn Gebote an Moses auf dem Berge Sinai und damit an die Gründung der jüdischen Religionslehre erinnert, werden im Judentum traditionell die Kinder eingeschult. Um diesen wie überall auf der Welt heiklen Vorgang zu erleichtern und das Lernen kindgerecht zu gestalten, werden die ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, das es zu erlernen gilt, als Honigkuchen verschenkt oder mit Honig auf eine Tafel gemalt, und die Kinder lecken sie ab. Damit soll ihnen die Süsse der Heiligen Texte und der Schrift, die im Judentum eine hohe Bedeutung hat, nahegebracht werden. Es kann nicht ganz erfolglos gewesen sein, denn die Juden gelten gemeinhin als das Volk der Bücher.
Meine Grossmutter jedoch war nicht ganz so feinsinnig. In den Zeiten des späten Wirtschaftswunders bekamen wir Kinder von ihr in einem quietschroten Netz sogenannte Golddukaten – Münzen aus goldenem Staniolpapier und Schokoladenfüllung. Ziemlich viel davon. Ehrlich gesagt habe ich mich daran als Kind so überfressen, dass ich von da an den Sinn der Sparsamkeit erkannte. Ich weiss nicht, ob es so wirklich beabsichtigt war, aber im Kern sind solche abgewandelten Ansätze gar nicht schlecht, wenn es um Tugenden wie Haushalten und das Bewusstsein für Werte ging – für 5 ungeliebte Dukaten, wenn ich mich recht erinnere, gab es im Kindergarten einen Schlumpf.
Das Gefühl für Geld dürfte sich bei den nachfolgenden Generation jedoch drastisch ändern, wenn die Altvorderen ein wirklich feines, alteingesessenes Café mit Kronleuchtern und dunkler Holzvertäfelung im Ort Tegernsee besuchen. In diesem Café, direkt an der Strasse der Steuerzieher, der Route von München über den Achenpass ins abgabenfreundliche Kleinwalsertal gelegen, und fern der allzu bekannten Wege mit den respektlosen Nachstellungen dreister Behörden, gibt es als Mitbringsel für die Kleinen das hier:
Geldkoffer, prall gefüllt mit dicken Schokoladenbündeln. Man fragt sich, wie der erzieherische Effekt auf Kinder ausfällt. Versuchen sie, sich in der Privatschule bessere Noten zu erkaufen, als sie ohnehin schon fast garantiert werden? Spielen sie damit Szenen aus dem VW-Betriebsrat nach? Üben sie für den späteren Beruf als hessischer CDU-Schatzmeister? Nehmen sie den Koffer mit, wenn sie auf den Ledersitzen in Papis Limousine am schönen Achensee vorbei nach Österreich fahren, und gewöhnen sie sich damit schon mal an die Vorzüge Schweizer Konten? Und werden sie später, wenn sie als Lobbyist den Koffer bei Politikern über deren Freundlichkeiten und das Meucheln weniger genehmer Parteifreunde vergessen, sich bei diesem Versehen an die Süsse der Kindheit erinnern?
Auf den ersten Blick mag man glauben, dass dieser See und seine Bewohner der besseren Gesellschaft, die sich lautstark über die Probleme der Anlage KAP der Steuererklärung beschweren, weit weg sind von dem, was andernorts das Leben unter weitaus weniger erfreulichen Umständen ausmacht. Es ist, um es kurz zu sagen, eine Region, in der Kindern von früh auf vermittelt wird, dass das natürliche Vorkommen von Geld in Koffern ist, wo es in Bündeln lebt. Sehr fremd, wird man sagen, dort die Tegernseer, hier der Rest. Ich aber denke, auch wenn der Tegernsee ein Ort ist, dessen zynisches Motto in der Krise lauten könnte: Wohnen, wo sich andere den Urlaub bald nicht mehr leisten können – es ist immer noch ein gemeinsames Land, in dem wir leben, unter Abtrennung gewisser Regionen zu unser aller Wohl, natürlich. Und wir alle haben etwas vom Tegernsee. Ich habe die Berge, das Wasser und die wirklich sagenhafte, silbrige Luft, was meine Lebenserwartung deutlich erhöht (soviel dann auch zur Theorie, im Tod wären alle gleich). Und Sie, werte Leser, haben Eliten, die wie unschuldige Kinder vom Tegernsee mit Geldkoffern spielen, sie verdanken diesen harmlosen Angelegenheiten solche Interviews mit einem beleidigten Steuerstraftäter, und einen Ministerpräsidenten, dessen jüdische Vermächtnisse noch etwas verfälschter waren als das, was den Kindern hier an ursprünglich jüdischen Erziehungsmassnahmen zugemutet wird.
Der Tegernsee also ist ein sehr spezieller Ort, mit sehr allgemeinen Lehren und Folgen. Mir ist durchaus bewusst, dass man die Auswirkungen nicht mögen muss. Aber ich denke, Sie sollten Ihre Zustimmung, die Kritik oder den Volksaufstand wenigstens fundiert begründen können, ohne sich dem Ärger eines Immobilienerwerbs am See aussetzen zu müssen. Ich werde Sie deshalb in der nächsten Zeit etwas herumführen, und es wird auch ohne Geldkoffer Ihr Schaden nicht sein.