Und dabei wirst auch Du einst diesem Schmutze gleichen, dem Unrat, der dort grausig klafft.
Du Sonne meiner Welt, Du Sternbild ohnegleichen, mein Engel, meine Leidenschaft.
Baudelaire, Ein Stück Aas
Vielleicht ist dieser Tag, an dem das uns bekannte Wirtschaftssystem vor dem Ende zu stehen scheint, da Banken und Politik übereinander herfallen und jeder sein Erpressungspotenzial ausspielt, da man ausgelassen feiern kann, weil im Betrieb ohnehin nur Kurzarbeit regiert, da bei den Reichen die Milliarden und bei den Armen die Lebensversicherungen erodieren, da das Ende nicht fern und die Rettung eher unwahrscheinlich wirkt, vielleicht also ist dieser Tag nicht ganz ungeeignet, sei es nun zur Ablenkung oder Einstimmung auf das Unausweichliche, über Verfall nachzudenken. Und darüber, ob Verfall wirklich überall das Gleiche ist, die gleiche Ästhetik besitzt, unveränderlicher, integraler Bestandteil jedes Seins, ist – oder ob Verfall nicht nach den gleichen, klassenspezifischen Kriterien wie der Tod die einen bevorzugt und die anderen liebt. Nach 251 Kommentaren unter diesem umstrittenen Beitrag , dessen Debatte mit einer nichtswürdigen Postille begann und im Müll von Berlin endete, stellte Ladyjane nämlich folgende kluge Frage:
“Was mich gleichwohl erstaunt, wenn ich mir Ihre schnöden Müllphotos anschaue: Sind Sie so gänzlich unempfänglich für die melancholische Schönheit großer gerupfter Städte, die doch spätestens seit Baudelaire in Kunst + Literatur + Feuilleton ihren Platz hat? Wenn man andernorts über Schönheit geradezu stolpert, brauchts halt in manchen Schrummelgegenden ein bisschen gute Beleuchtung, besondere Gestimmtheit + sonstige Zauberei, um Resten + Ruinen ein wenig Poesie anzugewinnen.” Sicher, das kann man tun. Aber ich denke, ich kann mit bester Überzeugung mit Nein antworten. Nein, ich bin nicht unempfänglich, aber ich sehe im Berliner Müll auch keine Poesie.
Natürlich hat sich die Kunst, die das Elend meist nur zu gut aus eigener Anschauung kannte, mit dem Beginn des Christentums in einer Überhöhung von Armut und Zerfall versucht. Wir sehen in Kirchen echte, noch nicht von Lehman geschädigte Bettler, denen von Heiligen mit echten Wundern und nicht nur Versprechungen geholfen wird, und Grabplatten, auf denen Maden die Gerippe durchdringen, als wären es Insolvenzverwalter. Auf Stillleben nähren sich Fliegen am Saft geplatzter Granatäpfel, der süsser ist als geplatzte Kredite, im Rokoko ergötzte man sich an der Unregelmäßigkeit durch Schönheitsflecke, und auch ich habe zur Erbauung auf meinem Schreibtisch einen Stich voller Jammer, in dem sich Ludwig XVI. vor dem Weg zu Schafott von seiner Familie verabschiedet – ein Szenario, das in der Londoner City bald wieder Freunde finden könnte. Die Lust am Niedergang geht immer weiter, bis sie dann im gesellschaftspolitischen Sumpf der Horrorstreifen aus Hollywood und der schauriger Pressemitteilungen der Bayerischen Landesbank ein nicht wirklich angemessenes Ende findet. Nur: Den Stuhl im obigen Bild, aufgenommen im angesagten Wohnviertel am Berliner Helmholtzplatz, würde sich trotzdem keiner nach Hause holen. Ich weiß das, weil der Stuhl an dieser Stelle ein paar Monate stand, von Hunden als Toilette und Besuchern als Schlagzeug benutzt wurde und sein Dasein als Trümmerhaufen in der Gosse besiegelte. Diese Art des Niedergangs nennt man: Müll.
Nun könnte man sich lang und breit an dieser Stelle über das asoziale Verhalten derer auslassen, die den öffentlichen Raum mit einer weit verbreiteten Selbstverständlichkeit zur Müllkippe erklären. Man könnte mit Fug und Recht sagen, dass sich darin eine Mentalität äußert, die der Allgemeinheit für den kleinsten eigenen Vorteil jede Gemeinheit und Belästigung zumutet, und bitte: In diesem Luxusviertel wohnt niemand, der sich den Anruf beim Sperrmüll nicht leisten könnte. Nur stammt das goldene Holzgitter oben auch nicht gerade von einer Organisation, der man allzu viel Menschenliebe nachsagen sollte: Es kommt von einem Gestühl einer Kirche im Bayerischen Wald, und auf den Reichen, der sich diesen Prunk leisten konnte, kamen Hunderte, die in dunklen Wäldern ein elendes Leben fristeten. Auch diese Unterscheidung, die Menschen in Bevorzugte hinter und Benachteiligte vor dem Gitter teilt, ist asozial. Und ungleich dauerhafter: Der Berliner Müll ist nach einem halben Jahr abgeholt und wird von den Anwohnern durch neue Kühlschränke und Matratzen ersetzt, aber im Bayerischen Wald herrscht auch heute noch die CSU.
Ungeachtet der gesellschaftlichen Problematik erfreuen sich die realen Abbildungen der alten Klassenschranken auch noch nach Jahrhunderten größter Wertschätzung. Selbst wenn sie bei einer Kirchenrestaurierung aus ihrem Kontext gerissen und verkauft wurden, können sie als Kunsthandwerk für sich selbst stehen. Der Geist, der diese Schranken schuf, verdammte Meinesgleichen ziemlich ordinär und intolerant von der Kanzel herab, aber trotzdem werde ich sie bei mir an die Wand hängen. Exakt so, wie sie sind. Ohne Reparatur, und gerne noch mit dem schwachen Geruch des Weihrauchs behaftet, der sich nach Jahrhunderten im Holz festgesetzt hat. Nach all der Zeit sind die Gitter so schwer beschädigt, wie der Berliner Stuhl es zu Zeiten seines Abtransportes war. Aber es ist nicht das übliche Zerbröckeln, das man von frisch restaurierten Berliner Bauten dank der Tätigkeit günstiger Subunternehmer mit unpoetischen Beziehungen zur rumänischen Mafia kennt, es ist nicht die Schäbigkeit eines Frankfurter Wolkenkratzers, dessen Investor die Reinigung als Sparpotenzial entdeckt, sondern die richtige Art des Zerfalls.
Es ist das, was man als Patina bezeichnet. Es ist eine gefällige Art des Niedergangs, die voller Geschichte steckt, die da nicht lautet: “Papa hat es im Möbelhaus gekauft, nach drei Jahren war die Höhenverstellung kaputt und der Sohn hat es Nachts um fünf heimlich auf die Strasse gestellt.” Natürlich löst sich der Stuckgrund vom Holz, die Fehlstellen sind klar erkennbar, so dass man in der Kirche wieder neue, goldenere und bessere Schranken wollte, aber für den Gebrauch als Spolien könnten sie in diesem Zustand der Auflösung nicht besser sein. Es ist dieses Sterben in Schönheit, das die neue Grenze der Klassen zieht: Für die einen mag es ein altes, ramponiertes Stück Holz sein, das sie nicht verstehen; für die anderen ist es Kunst und Ausdruck einer Haltung, die man vielleicht mit der mittelalterlichen Einsicht des “Media in vita in morte sumus” umschreiben kann; als Bewusstsein, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, und so frisch und jung wir auch sein mögen, doch schneller Risse bekommen, abblättern und zerfallen als das, was wir uns in eitler Freude über den guten Kauf an die Wand nageln.
Probieren Sie es aus: Gehen Sie in Berlin, Bremen oder wo auch immer vor die Tür, nehmen Sie den Hunden die noch mit Laken bedeckte Matratze weg und nageln Sie sie an die Wand. Ich denke, Sie werden dann spätestens an der Reaktion der Gäste den Unterschied zwischen der morbiden Größe des alten Prunks und dem höchst banalen und unpoetischen Müll verstehen, den vermutlich wie Hundekot und Werbeplakate niemand vermissen würde.