Das Aggressionsverhalten ist noch nicht so weit gereift, dass es zum reinen Angriff kommt; dies geschieht erst viel später, wenn das Kind seiner selbst sicher und seiner körperlichen Fähigkeiten bewusst geworden ist.
Desmond Morris, Der nackte Affe
Es gibt nach Amokläufen keine Vorfreisprechung, die sich im Internet, in Blogs und Foren so schnell verbreitet wie die Behauptung: Mit gewalttätigen Videospielen hat das natürlich nichts zu tun. Getrieben von der Ahnung, dass sich im Zimmer des Mörders wie bei so vielen anderen eine umfassende Sammlung an Gewaltverherrlichung in Ton, Bild und Waffen findet, wird vorbeugend klargestellt, dass man bei Videospielen wie Counterstrike auf Seiten der guten Polizei anderen aus dem Hinterhalt das Gehirn aus dem Kopf schießt, und dass es zentral um Strategie gehe, keinesfalls aber um das Vergnügen bei der Betrachtung mannigfaltig verstreuten Kadaver. Die Gemeinde der Spielfreunde ist sich da so sicher wie der NPD-Mann, dass die Hetzreden nicht zu Brandanschlägen führen, sie vertreten ihre Überzeugung wie der Spirituosenhersteller, der keinen Zusammenhang seiner Produkte mit Komasaufen erkennen kann. Journalisten, die dergleichen nie nächtelang gezockt haben, kennen sich ohnehin nicht aus.
Das stimmt. Ich habe keine Ahnung, wie das ist, nächtelang mit Freunden vor einem Rechner zu hängen und sich mit Bier und schlechtem Essen die Zeit über das Lösen von Tasks und sich in den Weg stellenden menschlichen Hindernissen – seien es nun bewaffnete Figuren aus dem Rechner oder genervte Eltern – zu vertreiben. Ich gehörte eher zu denen, die gern gelesen haben, und besitze keinen Fernseher und kein Videospiel. Ich pflege eine Bibliothek. Und weil ich so absolut keine Ahnung von all der modernen Lust an Mord und Totschlag habe, habe ich ein paar Frage:
Warum legt kein Freund von Rainer Maria Rilke den Gedichtband weg, greift zur AK-47 und läuft Amok? Warum brechen höhere Töchter nicht die Triosonaten von Telemann ab, legen die Instrumente beiseite und erstechen ihre Mitschülerinnen? Ja, warum tendieren sogar Besucher eines Leistungskurses Deutsch nach dem Lesen der problematisch-mörderischen Stelle in den Verliesen des Vatikan von Andre Gide – der Held wirft grundlos einen Katholiken aus dem Zug – nicht dazu, in der Pause den Religionslehrer im Waschbecken des Lehrerklos zu ertränken? Warum werden trotz aller Gewalt in der alten Literatur nur Verbrechen begangen, deren Vorlagen Gewaltvideos und Ballerspiele sind? Kurz, warum sind Menschen, die den modernen Unterhaltungsangeboten mit extensiver Gewalt entsagen, andauernd nicht unter denen zu finden, die Massenmorde begehen?
Man mag, wenn man ab und an noch etwas anderes gelernt hat, als am Bildschirm mutierte Monster durch atomar verstrahlte Städte zu verfolgen, durchaus einwenden, dass es nicht immer so war, und nichts könnte das besser als all die jesuitische Literatur in meiner Bibliothek belegen, die dort neben Voltaire und Diderot auch zu finden ist, und die einen bedingungslosen Krieg mit allen Mitteln gegen Andersartige fordert. Ja, man kann mit Büchern Menschen zu Verbrechern machen und Nationen ins Unglück stürzen. Das allerdings ist in Mitteleuropa reichlich lange her, und sogar Taliban und Hisbollah setzen heute auf Youtube, MTV-Ästhetik und Videobotschaften.
Tatsächlich also bleibt da diese Frage: Warum metzelt niemand, der gerade Heines anzügliche Gedichte gelesen hat, ein Mädchen nieder, und warum erschießt jemand nach Monaten von Horrorvideos und Ballerspielen ihm vollkommen unbekannte Menschen mit zynischen Sprüchen? Warum greifen Waffennarren zu Waffen und Büchernarren nur zu Büchern? Wieso erscheint es uns so absurd, würde man annehmen, jemand würde nach der erfreulichen Lektüre von Schloss Gripsholm auch nur grundlos jemanden schlagen, und warum ist man so überhaupt nicht überrascht, wenn jemand nach einem Tag zocken sich auch im realen Leben nicht mehr angemessen zu benehmen weiß? Und wieso ist es nicht absurd, den Ballerspielen genau diesen Effekt abzusprechen?
Eine Frage kann ich mir jedoch sehr wohl beantworten: Lese ich vierzig mal ein Gedicht von Erich Mühsam, ist es mir ein Leichtes, ein Cafe aufzusuchen und einer Frau ins Ohr zu säuseln: “An der Dichter Niederlagen lässt der Dichter Lieder nagen.” Ich übe es, es geht über, ich folge Mühsams Esprit und Koketterie nach, ich lerne von ihm das Warme und Freundliche, und lerne aus anderen Werken, dass es weise und erfolgversprechend ist, mich dergestalt einer Frau zu nähern. Angeblich jedoch soll es vollkommen absurd sein zu glauben, dass jemand Tage damit zubringt, Erfolgserlebnisse beim Abschlachten virtueller Gegner zu haben, sich damit vor seinen Artgenossen brüsten und vergleichen zu können, und dann dieser Welt als freundliche und angenehme Bereicherung erhalten bleibt, die das gelernte Töten auf keinen Fall, unter keinen Umständen jemals auch nur irgendwie fortführen würde. Das ist dann den Verteidigern des Ballerns immer etwas anderes, die Familie, die Schule, aber nicht, unter gar keinen Umständen eine verkommene Industrie mit zynischen Machern, die Milliarden mit dem Raubbau an einer zivilisatorischen Kruste verdient, die andere mit viel Mühe, Geld und Opfern aufgebaut haben.
Ich bin eigentlich sehr froh, in einer Epoche zu leben, in der die Gewalt zwischenzeitlich weit zurückgedrängt war. Ich mag die Vorstellung nicht, dass sie jetzt durch die Hintertür einer “Spieleindustrie” wiederkommt, und den Umstand, dass sich zwischen Bücherlesern und Videospielern eine Kluft auftut – die einen lernen, Konflikte verbal zu lösen, die anderen, sie bestenfalls strategisch, schlimmstenfalls mit purer Gewalt anzugehen. Kulturgeschichtlich ist das ein klarer Rückschritt.
Ich mag es nicht, wenn unten eine Mama ihre Tochter bei der Schule abholt und auf ihrem Auto Werbung für einen Kickboxer ist, der Einsteigerkurse für “militärischen Nahkampf” gibt. Ich bin reichlich froh, nach über anderthalb Jahrtausenden der privatisierten Gewalt und der täglichen Brutalität in einer Welt zu leben, in der klares Gewaltmonopol gibt. Niemand käme heute wieder auf die Idee, eines meiner jesuitischen Hetzstücke gegen Libertins in die Hand zu nehmen und mit Geistesgenossen einen Mob zu formen, um die Verbrennung der Bücher der Aufklärung und ihrer Autoren nachzuspielen –
solange es kein Videospiel ist. Da geht das alles. Da kann man das problemlos haben, in allen Varianten, klare Feindbilder, antimoderne Mythen, jedes Schlachtfeld des zweiten Weltkriegs, so realistisch wie möglich, mit immer neuen, noch besseren, noch krasseren Sinneseindrücken, man stumpft schließlich ab nach dem 10. Gehirn an der Wand, also holt man sich eben den nächsten Kick, das nächste Level, auf dem Schulhof von den Kumpels oder vielleicht doch gleich superrealistisch in der Klasse. Pardon, ich wollte ja nicht polemisch werden. Aber solange niemand auf die Idee kommt, zwischen der Lektüre des Candide und dem Zadig grundlos seine Nächsten zu ermorden, möchte ich meine persönliche empfundene Abscheu für die Verteidiger und ihre platten Ausflüchte für den Dreck der Ballerspiele hier keinesfalls verhehlen.