Revolutionen pflegten sich stets durch Unhöflichkeit auszuzeichnen; wohl deshalb, weil die herrschenden Klassen sich nicht beizeiten die Mühe gaben, das Volk an gute Manieren zu gewöhnen.
Lew Dawidowitsch Bronstein genannt Trotzki, Geschichte der russischen Revolution
Natürlich kommt man nicht umhin zuzugeben, daß es einen höchst erfolgreichen Klassenkampf in Deutschland gibt: Den Klassenkampf von Oben. Das hört man nicht gerne an der Spitze, denn dort sehnt man sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit, und man hört es nicht gerne Unten, denn dort hätte man das gerne anders. Alle paar Monate gibt es neue Zahlen zur weiter auseinanderklaffenden sozialen Schere, und es muss schon eine Weltwirtschaftskrise daherkommen, damit sich Oben – reichlich unfreiwillig und vom Vermögensberater getäuscht – wieder dem Unten annähert.
Übrigens, und das finde ich spannend, ohne daß Unten irgendeinen substanziellen Beitrag dazu geleistet hätte. Ein paar Millionen Hausbesitzer mit schlechter Bonität und gierige Banken im fernen Amerika haben mit dem Zusammenbruch der Märkte und den Vermögensverlusten der Reichen etwas geschafft, das die Unten mit Jahren des Maulens vor dem TV-Gerät nicht vermochten, woran sich Zeitungsartikel die Stumpen im zahnlosen Mund ausbissen, wogegen sich Politiker wenden, die auf die Stimmen jener Maulenden angewiesen sind.
Wenn man sich nun – wie der Autor – erdreistet, durchaus distanziert und nicht ohne Ironie vom feinen und sehr angenehmen Leben Oben zu schreiben, das auch in Zeiten wie diesen jeden Komfort bietet und trotz aller Klagen über schmelzende Depots keine grösseren Opfer fordert, als die Umschichtung des Schwarzgeldes von der Schweiz in die Karibik, den Verkauf einer ungenutzten Ferienwohnung oder die Trennung vom Drittoldtimer (dazu mehr in den kommenden Wochen); wenn man nicht einstimmen möchte in das mediale Angstgeschrei, sondern der Überzeugung ist, daß es schon immer gelangt hat und auch immer langen wird, daß Unsereins stets Fleischiges auf dem Tisch hatte und noch lange Kräuterseitlinge und aus Italien mitgebrachten Gorgonzola Dolce in das Omelett schneiden wird; wenn man also getreulich und ohne Falsch und Lüge von dieser schweren Zeit berichtet, die gar nicht so übel ist, denn ich hatte einen wirklich famosen Bergwinter – bekommt man Zuschriften, die sich nicht gewaschen haben.
Aber hallo. Ein Anonymling lässt mich wissen, er habe Anzeige wegen Volksverhetzung gestellt, und auch der Pädophilie möchte man mich verdächtigt sehen. Man wünscht mir verbales “Waterboarding”, ich sei asozial, ein Schnösel, “Teil des Problems”, dem man die “Fresse einschlagen” sollte. Meiner Schicht wünscht man explizit das Schafott, die Pleite, den Untergang, vermutlich würde man uns allesamt gerne im TV-Gerät betrachten, wie wir ohne Bezahlung gezwungen sind, entwürdingende Szenen der Realitätsschauspiele privater Sender nachzuspielen. Das wäre sicher eine Freunde, aber es ist eben auch ein Teil des Problems. Ein Teil des Problems derer da Unten.
Gestern Nachmittag etwa kam wieder ein Schwall solcher Wünsche von Menschen herein, denen ich noch nicht mal vorgestellt wurde. Ich bekam es natürlich nicht mit, denn während man sich unten an den Grundregeln der Grammatik die Finger verbog, war ich Oben, ganz Oben, auf 1600 Meter, auf dem Wallberg. Dort oben ist ein feines, teures Cafe mit Panoramablick, hier oben herrscht noch König Winter und eine Gesellschaft, die augenscheinlich zufrieden ist. Die alten Tanten im Wallberghaus haben kein Internet, und sie bekommen all die schlechten Wünsche noch nicht einmal mit. Man steht da oben, schaut hinunter auf den Leeberg, Tegernsee, die Privatkliniken in Bad Wiessee und das perverserweise florierende Escadageschäft in Rottach. Alles ist famos, alles ist zufrieden, in der Realität.
Das ganze Gemaule dagegen ist virtuell. Es existiert nicht wirklich. Würde ich es hier nicht ins Licht der Öffentlichkeit zerren, es hätte nie eine Chance gehabt, gelesen und besprochen zu werden. Es sind wirklich viele Zuschriften, ein Werber für Fussabstreifer etwa nimmt sich nun schon Tage Zeit, mir meine Verworfenheit vorzuhalten, und all das: Für nichts. Die Leute, die das tun, haben in Form von Neid und Hass sicher eine Art rudimantäres soziales Seelchen, ab und an maulen sie über die Finanzkrise, von der sie nichts verstehen, und über Lehman, das sie mit zwei N hinten schreiben, und das ist es dann aber auch schon wieder. Papa brüllte noch das TV-Gerät an, die virtuellen Kinder schreiben Trollkommentare.
Das ist wenig. Viel zu wenig. Es ist ohnehin erstaunlich, wie ruhig man in Deutschland den Niedergang akzeptiert. Wie Arbeiter für Zocker wie Frau Schäffler auf die Strasse gehen, wie man Fälle wie Herrn Zumwinkel ohne jeden Protest in ihre Altersruhesitze im Ausland entfleuchen lässt. Mit all der Zeit, die man tagein tagaus damit zubringt, Klassenfeinden ihre Ehrlichkeit vorzuwerfen und vor dem TV-Gerät Scheinprominente bei der Herabwürdigung von ganz Oben nach ganz Unten zuzuschauen, da man sich mit Gewaltspielen verlustiert, in denen man durch Brandbomben und Kopfschüsse dem angeblich Guten zum Siege verhilft, könnte man ja auch mal ein Plakat malen und sich vor eine Bank stellen.Gerade, wenn man noch nicht von der unsäglichen Hartz IV-Diskriminierung betroffen ist und noch die Kraft hat, sich zu wehren.
Das mag für manche nach Grossvaters Sitte und total “lame” klingen, man wird damit auch keine Banker dazu anhalten, ein Kakerlakenbad zu nehmen, oder so einen spassigen Prozess wie der Verena ihr Franjo zu erdulden, nur: Wenn man wirklich der Meinung ist, dass hier ein Problem ist, wäre das ein probates und klassisches Mittel. Jeder mittlere Gameclan könnte bereits TV-Kameras und Praktikanten anziehen. Sie könnten in die Mikrophone stammeln, wie schlecht doch diese Welt ist, in der die einen am Nachmittag in der Bergwelt rodeln gehen, und die anderen in schlecht gelüfteten Zimmern überlegen müssen, wie sie die 500 Euro für die neue Graphikkarte zusammenkratzen. Mit etwas Nachdenken wäre es sogar möglich, etwas vorzutragen, was nicht dumm ist und andere animiert, ebenfalls aktiv zu werden.
Aber das wird nicht passieren. Die neuen Medien bringen den Menschen bei, dass alles sofort und jetzt gleich sein muss. Wenn der Kommentar nicht nach 10 Minuten freigeschaltet ist, maulen sie von Zensur, sie geben es einem sofort und gleich richtig und bleiben dabei anonym, sie sind extrem schnell mit Urteilen und sagenhaft kurz im Hirn, mehr braucht es nicht, um dabei zu sein im Sozialdiskurs von Unten. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, wie immer, aber die meisten demonstrieren nicht, sie reagieren sich ab. Und wenn sie sich abreagiert haben, laden sie irgendwas runter, chatten oder schauen sich Filme an, deren korrekte Umschreibung mit einem P-Wort das System hier filtert. Mit neuen Medien ist man blitzschnell und immer dabei, man lässt jeden Druck sofort ab, es gibt für jedes Aggressionspotenzial ein Ventil. Keiner von denen ist gezwungen, Demütigungen schweigend, Tag für Tag, Woche für Woche still zu ertragen, lange Tage, in denen er vielleicht mal Marx liest, oder Trotzki, oder auch nur Bebel, die Verhältnisse in ihrer ganzen Tiefe zu verstehen versucht und sich überlegt, wie er wirklich etwas bewirken kann. Das war mühsam, aber nachweislich nicht uneffektiv. Man hatte vor solchen Menschen Angst.
Die heutigen Gegner meiner Klasse dagegen sind, pardon, wenn ich das so sage, Waschlappen. Selbstverschuldete Waschlappen, digitales Lumpenproletariat, wenn man mir das alte Wort gestattet, für die der Gipfel des gesellschaftspolitischen Engagements Genörgel bei Twitter ist. Es ist da, es ist vorhanden, aber das sind die Hinterlassenschaften von Dackel Waldi auf dem Uferweg auch, man weicht aus und betrachtet wieder den feinen Sonnenuntergang am See. Es wird Frühling. Julchen hat nächsten Mittwoch Urlaub, man könnte nach Sterzing fahren. Vielleicht doch ein Segelboot im Sommer? Und wann geht es nach Rom?