Your Daddy´s rich, and your Ma is good looking
DuBose Heyward, Summertime
Theoretisch sind alle Menschen in Deutschland gleich. Solange sie sich an die Gesetze halten, können sie tun, was sie wollen. Jedem stehen alle Leistungen des Staates ungeachtet der Herkunft offen, es gibt Reisefreiheit, es gibt Bildung, Bibliotheken und ein Sozialsystem, und jede Menge Förderung für die Kleinen, deren frühkindliche Entwicklung dem Staat stets und überall am Herzen liegt. Zukunft des Landes, oder so. Theoretisch.
Praktisch ist der vermutlich schönste Kinderspielplatz des Landes aber nicht überall, sondern nur ein paar Minuten zu Fuss von meiner Wohnung am Tegernsee entfernt. Spielplätze gibt es viele, aber die meisten sind irgendwo in Siedlungen, eingepfercht zwischen Mauern und Alibigrün. Der hier ist anders. Er liegt direkt im Park. Am See. Gleich oberhalb des Badestrandes. Umrahmt von Bäumen. Gegenüber der Berge. In einer der reichsten Gegenden des Landes. Und er ist so gleich und egalitär wie die Königsloge in der Münchner Staatsoper.
Auch wenn der zinnenbewehrte Turm der Rutsche einen anderen Eindruck entstehen lassen könnte, gibt es hier keine Umzäunung. Man muss keinen Eintritt zahlen, der Spielplatz ist für jeden frei zugänglich, der mit seinen Kindern hierher laufen kann. Das sind zwei, dreihundert Familien. Und er ist für alle offen, die hierher fahren können. Für Eltern aus St. Quirin und Tegernsee ist das einfach, für alle anderen ist das schon ein erheblicher Weg. Aus Münchnen bräuchte man 45 Minuten, das macht man nicht mal eben so. Auch wenn der öffentliche Nahverkehr ganz in der Nähe hält, bringt er nur selten Familien von Auswärts. Also bleiben die Mütter vom Tegernsee mit ihren Kindern meist unter sich.
Sie können recht lang bleiben. Nebenan gibt es eine öffentliche Toilette und ein Restaurant mit Seeterrasse und gransiosem Ausblick, sie können dort etwas zu trinken kaufen und alles, was Kinder gerne haben. Gleich dahinter ist ein grosser Parkplatz, für die grossen Geländewägen und Kleinbusse, die Mütter vom Tegernsee fahren. “Ann-Sophie auf Tour” steht hinten drauf.
Ich bin fast täglich hier unten, denn es ist quasi mein Weg zum Bäcker, und ich kann mich nicht erinnern, hier je eine Mutter gesehen zu haben, die dick oder nicht ausgehfertig gewesen wäre. Die Mütter, die ich hier kenne, sind allesamt Joggerinnen oder, gleich richtig, Bergläuferinnen, sportlich und durchtrainiert. In jeder Hinsicht vorzeigbar. Frauen, die auf sich achten. Dort unten geht es im Frühling wie auf dem Laufsteg zu. Es ist dort nie zu bewölkt, um nicht eine Sonnenbrille in den Haaren zu tragen. Es mag der Konkurrenzdruck sein, oder schiere Eitelkeit. Sie sind die perfekte Ergänzung zur Bilderbuchatmosphäre dieses Ortes.
Kinder und Hunde machen keine Ausnahme. Für einen Spielplatz ist die ganze Angelegenheit erstaunlich ruhig und disziplniert. Die Kinder sind mit aller Begeisterung bei der Sache, aber insgesamt weniger auftragend und quiekend. Vielleicht, weil sie strenger erzogen sind als anderswo. Vielleicht, weil sie all die schönen Dufflecoats aus den Boutiquen nicht beschmutzen wollen. Vielleich aber auch, weil sie nicht so viel Stress abbauen müssen. Es gibt in dieser Gegend wenig, was Kinder unter Druck setzen könnte. Schon gar keine Gewalt, Rowdies und sozial weniger Begünstigte.
Der Park am See ist gross. Das entzerrt auch die Aktivitäten. Wer älter ist, muss nicht am Spielplatz sitzen, weil es wie in vielen Stadten und deren unerfreulichen Vierteln der einzige Freiraum wäre. Weiter hinten gibt es eine Torwand und Rasen für Ballspiele. Noch weiter vorne ist ein Pavillon, in dem die Skater und BMXer trainieren können. Es ist immer noch genug Platz für Rentner, Hunde, Enten und Radler da. Selbst im Hochsommer wird es nie richtig voll. Denn im Sommer wird der Parkplatz gleich am Morgen von jenen gefüllt, die in der Nähe wohnen. Münchner oder noch Ärmere können dann mit dem sprichwörtlichen Ofenrohr ins Gebirge, hier auf den Wallberg, schauen.
Es sind diese banalen Umstände, eine Mischung aus guter Lage und einer bestimmten Haltung, die unsichtbare Mauern um den Spielplatz zieht. Wäre man unterprivilegiert, würde man sich nicht wirklich begeistert willkommen fühlen und vermutlich mit Hass reagieren. Und weil sich die meisten Mütter hier kennen und verabreden, bliebe man auch in jeder Hinsicht draussen. Auch die Kinder kennen sich schon. Da ist für Aussenseiter wenig zu holen.
Das alles ist nicht gemein, böse oder ungerecht, es ist einfach so. Es ist keine Ausgrenzung oder Diskrimierung, sondern eine gewachsene Struktur, die sich den Platz nimmt, den sie braucht. Die Mutter aus Bremerhaven wäre hier so verloren, wie die Tegernseemutter in Bremerhaven zwischen Fixerbesteck und Punks mit Dosenbier. Hin und wieder macht man es sich bewusst, wenn doch jemand vorbeikommt, der nicht ideal hineinpasst, und der dann, von einigen Augen verfolgt, erfreulicherweise weiter geht. Es ist immer noch Deutschland, es ist ein freies Land, hier ist alles öffentlich, und trotzdem Menschen vorbehalten, die zu einer bestimmten Klasse gehören; nicht unbedingt die Superreichen, die in St. Quirin ihre Enkel in kleinen Parks spielen lassen, aber sehr wohl die besitzende Schicht. Von unten aus gesehen ist das alles so oder so mit einem Wort “reich”. Und unerreichbar.
Man merkt das an den Details. Die Geräte wurden in der Region gefertigt. Hier liegt kein Müll herum, denn die Gemeindearbeiter machen alles sauber. Es gibt hier keinen Vandalismus und keine Sprayer. Es ist nichts beschädigt. Es ist ein Ort nur für Kinder und Mütter. Um sechs kommt dann der Vater nach Hause, die Mütter verstauen die Kinder in den Geländeautos, ziehen den Lippenstift nach, und fahren zurück in Tiefgaragenstellplätze, die ab 12.000 Euro zu haben sind.
Wer direkt hier wohnt, kann noch etwas bleiben, den Sonnenuntergang betrachten, und sich Gedanken machen. Über die Kinder, die hier leben. Die keine Ahnung haben, dass es auch noch eine andere Welt gibt, in der Mütter zur Flasche greifen und Junkfood in sich hineinstopfen. Die nichts von Hartz IV wissen, und von gebrauchten Kleidern. Dieser Spielplatz filtert mindestens 2/3 der deutschen Gesellschaft komplett aus, es gibt keine Altersgenossen aus einem Plattenbau oder Block, keine Mütter aus billigen Mietwohnungen, keine sozialen Brennpunkte und die Gefahr, später in die Realschule zu müssen. Vater ist immer reich, und Mutter sieht immer gut aus. Auf dem Steg sitzt jemand mit Kamera und bespricht seine nächste Italienreise, die Enten sind fett und das Licht funkelt auf dem Wasser.
Ich, der ich mir solche Gedanken auf dem Steg mache, müsste hier eine Moral aufschreiben, etwa, dass es Unrecht ist, wenn die, die ohnehin schon den Grossteil des Landes besitzen, ohne Mühe und Recht den Spielplatz für sich beanspruchen, eine Klage über das Problem der Klassengrenzen, aber so einfach ist das nicht. Ich bin heilfroh, dass ich ähnlich abgeschirmt aufgewachsen bin, und jenen Freundinnen, die sich leider für Kinder entschieden haben, wünschte ich dringend, dass sie diesen Job hier am See machen könnten. Natürlich ist es ungleich und ungerecht, natürlich determiniert es die Kinder nicht weniger als eine Jugend im Block oder in Berlin, wo sie das Haus am See nur aus populären Liedern kennen. Wer hier spielt, für den sind die Weichen in die bessere Richtung gestellt, und wenn man schon geprägt wird: Dann nur so. Es ist nicht gut, dass es so ist, aber es immer noch die beste aller möglichen Welten.
Begleitmusik: Eigentlich diese wunderbare Stille nach dem Sonnenuntergang, wenn das letzte Kindergequengel auf 245er Breitreifen von acht Zylindern entfernt wurde, aber sollten sich ein paar Mütter über die neuen Burberry Kids Collection verratschen, empfehle ich mit L’Incoronazione di Poppea von Claudio Monteverdi, erschienen bei K617, eine erfreulich ehrliche Vorstellung von Partnerschaft und Zuneigung.