Man muss schon sagen, dass es eine Lust ist, mit diesem Pack zu leben.
Voltaire, Philosophisches Wörterbuch
Manche fanden diesen Beitrag über einen Spielplatz am See hier nicht nett. Und glauben, man müsse mit Defiziten in das Leben gehen, würde man in den richtigen Vierteln am richtigen See aufwachen. Dabei merkt man das als Kind nicht. Man wohnt halt am See. Da ist der See, daneben das Viertel, um das Viertel herum sind ein paar Wiesen und Wälder, und in etwas Entfernung andere Viertel, die ähnlich aussehen, aber keinen See daneben haben. Aber dafür den Golfplatz oder die Tennisplätze. Ansonsten ist es überall das gleiche: Jede Familie hat ein Haus, einen Garten, zwei Autos, die Kinder gehen alle auf die Gymnasien, spielen miteinander und baden am See.
Man weiß wirklich nicht, wie das anders sein sollte. Man sagt Unsinn wie “Ich könnte es mir ja nie vorstellen, in einem Block zu wohnen”, man beleidigt andere, ohne es überhaupt zu verstehen. Man erfüllt ein paar Erwartungen, man hält sich an die Regeln, man hat die angemessenen Manieren so verinnerlicht, dass sie einem überhaupt nicht mehr auffallen, solange sich keiner in der Schule den Spaß macht, gegen den Anstand ausdrücklich mit Körpergeräuschen zu verstoßen. Aber dafür wohnt der ja auch nicht am See. Sondern woanders. Vielleicht sogar im Block.
Es gibt viele Blocks in der Stadt. Um die Firma herum, die das Geld in die Stadt bringt, wohnen fast alle in Blocks. Diejenigen, die später kamen. Es sind so viele, man muss sie in die Schachteln packen, denn etwas anderes können sie sich erst mal nicht leisten, und so viel Platz hat man auch nicht. Eine Welle von Menschen, die jene, die schon hier waren, emporhob, aus Ladenbesitzern Geschäftsführer machte, aus Prokuristen Gesellschafter, aus Bauern Grundbesitzer und aus Wohlstand Reichtum. Und aus Bürgertum die bestimmenden Kreise.
Diese Transformation stößt hier an natürliche Grenzen. Was bringt es, zu den oberen 10.000 einer Stadt zu gehören, die nur ein paar hundert relevante Familien umfasst, und mehr oder weniger Blockbewohner. Der soziale Aufstieg ist abgeschlossen; wer hier erst mal oben ist, kommt kaum weiter. Es gibt kein Viertel, das noch besser wäre, es findet sich keine Gegend, in der noch bessere Leute wohnen würden. Mitte der 80er Jahre ist die Entwicklung am Ende, die Träume von Generationen so weit wie möglich erfüllt. Mit der Erfolgsgeschichte der Stadt steigt man weiterhin relativ zum Rest des Landes auf, die Mieten erreichen Münchner Niveau, und das Arbeitsamt weiß nicht, wo es noch Arbeiter herbekommen soll: Nur innerhalb des Sozialsystems der Stadt verharrt man an der Spitze der Nahrungskette.
Also werden die Kinder gleichsam Aussenposten in der Fremde. München bietet sich an. München kennen die Kinder schon von früher, als sie in mit der AG Literatur die Oper gefahren sind, die es daheim natürlich nicht gab. München ist ein Kaff wie daheim, nur größer. Dazu gibt es einen adäquaten Auftritt: Keine Mietwohnung, sondern gleich eine Eigentumswohnung. Es gab und gibt es keine “Mietleit” in der Familie, mieten mag praktisch sein, aber es ist nicht üblich; da füttert man nur den Vermieter, man wäre am falschen Ende der Nahrungskette, also: Gärtnerplatz. Maxvorstadt. Südliches Schwabing. Das lohnt sich. 100% Wertzuwachs in 20 Jahren.
Das Studium verbringt man mit Leuten, deren Eltern meist keine Wohnungen kaufen. Das Nachtleben dagegen mit Leuten, deren Eltern in Grünwald oder in Bogenhausen wohnen. Daheim gab es fünf Läden, in die man gehen konnte, in München gibt es auch nur fünf Läden, in die man gehen kann. Man rutscht da so rein, man hat die nötigen Qualifikationen, man hat daheim gelernt, sich hier richtig zu benehmen, und die Party im Seehaus, in die man nur mit persönlicher Einladung kommt, wird ohnehin vom Sohn des Zahnarztes aus dem alten Nachbarviertel mit dem Golfplatz organisiert. Dem Sohn macht das mehr Spass als eine Praxis, in der er Arbeitern in der Heimatstadt im Mund rumbohrt. Dann geht die Sonne über dem Englischen Garten auf, und das Licht funkelt in den Tropfen an den beschlagenen Fensterscheiben, die nicht mehr im Takt der Musik vibrieren. Man geht durch den Park heim, über den mittleren Ring donnert der absurde Berufsverkehr absurder Beschäftigungsnachgeher, und die Freunde, die aus der Heimat kamen, rasen in die Schule zurück. Man hofft, dass ihnen mit dem gelben Fiat Uno Turbo nichts passiert, den sie sich vom Kollegen der Mutter, sagen wir mal, ausgeliehen haben. Sonst gibt es daheim Gerede.
Nun müsste etwas geschehen, eine Entwicklung müsste einsetzen, eine Karriere, eine Wiederholung der elterlichen Erfolgsgeschichte auf höherem Niveau, vielleicht schneller, vielleicht besser oder wenigstens reicher, aber manche kehren zurück in die Provinz, weil es ihnen dort besser gefällt. Andere bleiben in München, aber es fehlt allenthalben der Ehrgeiz und der Willen, sich gleich fest zu binden und zu heiraten. Daheim ist das anders, da wird schnell der Jugendfreund geehelicht, aber München ist eine Singlestadt. Grosse Wohnungen muss man sich erst mal leisten können. Und es gibt ein Überangebot an unverbindlichen Möglichkeiten. Man kann viel und muss überhaupt nichts. Es ist nicht schwer, sich neu zu erfinden, es gibt berufliche Chancen und immer einen, der jemanden kennt, der etwas hat. Es reicht, wenn damit ein Titel verbunden ist, der einen daheim nicht als Komplettversager dastehen lässt.
So wie die daheim. Bei denen ist es auch suboptimal ausgegangen. Die Scheidungsquote liegt auch bei den Kindern der besseren Gesellschaft auf dem Niveau übelster Blockviertel. Weil man sich nicht zusammenrauft, weil man sich nicht anpassen kann, weil man merkt, dass man hinter den eigenen Lebenserwartungen zurückbleibt. Es ließe sich trefflich diskutieren, was schlimmer endete, die Ehe daheim oder der Börsengang in München, aber am Ende bleibt die Erkenntnis, dass der Höhepunkt der Entwicklung wohl die Elterngeneration geblieben ist. Man fragt sich, wie die damals das Grundstück, das Haus, die Autos, die Wohnungen und das Studium finanzieren konnten.
Das Problem ist nicht regional begrenzt, es ist ein sehr banales Phänomen unter den Kindern der besseren Gesellschaft der fetten Schmidt- und Kohljahre, und es ist auch nicht schlimm, denn es ist genug da. Es entstehen keine Villenviertel mehr, nur noch Toskanabunker und Doppelhaushälften. Ab und zu bekommt ein junges Paar von den Familien ein großes Haus geschenkt, aber das sind Ausnahmen. Man ist vorsichtig, wer weiß, wie lange es gut geht. Das Rezept der Eltern war simpel und vorgestrig: Angemessen heiraten, in einem festen Beruf arbeiten, den religiösen Schein wahren, zusammenbleiben, sparen, Geld anlegen, Villa im richtigen Viertel bauen. Heute gibt es Partnerschaften, Jobs, Hausfreunde, Mobilität, Kreditkarten, Derivate und Apartments mit Rigipswänden, die mit dem Wort Luxus reichlich unzutreffend beworben werden. Und das ist immer noch oben, an der Spitze, regional und national. Die anderen wohnen immer noch in Blocks, kaufen mit der Abwrackpläne einen neuen, kleinen Opel, und soll auch noch Orte wie Hoyerswerda geben, da drüben im Osten.
Man muss das nicht schlimm finden, es ist halt so, wie auch das Wohnen am See einfach so war. Man denkt darüber selten nach, und man wird freundlicherweise auch nicht darauf angesprochen. Diese Unfähigkeit, die Geschichte fortzuschreiben, ist noch kein sozialer Abstieg oder echtes Versagen, nur eine Entwicklung, die gerne mit ein paar Zuschüssen oder Schenkungen – man will ja keine Erbschaftssteuer zahlen – abgefedert wird. Es is wias is, sagt man in Bayern. Der See ist immer noch wie früher, die bestimmenden Kreise sind geblieben, man wird in diese Kreise hineinwachsen und hineinerben, es hat sich letztlich nicht viel verändert.
Und genau das ist das kleine, irrelevante Problem am See und in den umliegenden Vierteln. Gross und relevant wäre es nur, würde man im Block wohnen.