Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Kapitalismus ohne Markt

Ich bin bekanntlich der höflichste Mensch von der Welt, aber unhöflich wäre es auch, aus dem eigenen Herzen eine Mördergrube zu machen. Wenn versucht wird, die katastrophalen Entwicklungen einer kapitalistischen Spekulation schönzureden, indem die Erfolge der Marktwirtschaft dem Kapitalismus zugeschrieben werden, und der Abgrund, in den wir starren, als normaler Zyklus beworben wird, ist es an der Zeit, über Unterschiede zu reden: Über den Unterschied zwischen dem realen Markt und den Hirngespinsten eines sich selbst ad absurdum führenden Kapitalismus

Versuchen Sie einmal, einen Porsche für einen Euro zu kaufen. Es wird Ihnen nicht gelingen. […] Macht aber ein Eisverkäufer den Versuch, Ihnen ein Schokoladeneis für 60.000 Euro anzudrehen, wird ihm dies ebenso wenig gelingen.
Rainer Hank bei FAZ.net

In dem zitierten Beitrag findet sich vieles, worüber man reden könnte. Der Autor versucht in neoliberaler Ehrenrettung, “den Kapitalismus” als Segensbringer darzustellen, sei es nun mit Statistiken zur Armutsentwicklung, Lob für die Garde neoliberaler Macher von Friedman über Thatcher bis Reagan, oder mit massiver Verkennung des Romans “Oliver Twist”, der eben jenes frühkapitalistische Elend beschreibt, das jenseits der reichen Staaten allerorten, vom chinesischen Wanderarbeiter bis zur indischen Näherin, in der Folge des Kapitalismus anzutreffen ist. Darüber kann man streiten und geteilter Meinung sein; was mich aber verwundert zurücklässt, ist der Versuch, einen einzigen Kapitalismus zu erfinden, der uns allen geholfen har, und mit dem wir deshalb alle leben müssten, egal ob in der angeblichen Boomphasen wie den letzten 25 Jahren, oder eben auch der aktuellen Krise.

Bild zu: Kapitalismus ohne Markt

Denn es gibt nicht “den Kapitalismus”, genauso wenig wie es “die Krise” gibt. Wollte man Rainer Hank glauben, so erlebten wir gerade nur einen weiteren typischen Wirtschaftszyklus, bei dem auf eine lange Phase stürmischer Entwicklung von Märkten und Geschäftsmodellen nun der Moment der notwendigen Anpassung erreicht ist: Firmen erkennen die Veränderung der Märkte, verschlanken sich, passen sich neuen Gegebenheiten an, und entwickeln dadurch die Fähigkeit, zum nächsten Aufschwung beizutragen. So gesehen tragen Veränderungen der Märkte zu einer Verbesserung des Gesamtsystems bei, die Leistungsfähigkeit steigt, die Gewinne steigen, und damit auch der Wohlstand. Die Krise ist wie eine Kurve, vor der man notgedrungen abbremsen muss, um auf dem Scheitelpunkt Gas zu geben und fröhlich die weitere Strecke zu befahren, an deren Ende Torte und Tee wartet.

Diesem System von Veränderung und Anpassung an den Markt verdanken wir tatsächlich den Atomausstieg und die Förderung regenerativer Energien, neue Antriebskonzepte für Autos, ein wachsendes Angebot für biologisch hergestellte Nahrungsmittel, Reduzierung von Tierversuchen und eine neue Blüte der Glasbläserkunst auf Murano  – einfach, weil es neue Märkte gibt. Es sind Märkte, die Konsumenten mit ihrer Nachfrage geschaffen haben, sie funktionieren nach marktwirtschaftlichen Regeln, und werden durch den Kapitalismus und sein Gewinnstreben in diesen Märkten möglich und gefördert. Und natürlich funktionieren sie auch, weil tatsächlich niemand gezwungen wird, ein Eis für 60.000 Euro zu kaufen, um so die Regeln des Marktes auszuhebeln.

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Aber neben diesen zyklischen Veränderungen, die ein notwendiger Wesensbestandteil der Marktwirtschaft sind, die immer präsent sind und nur auffallen, wenn mehrere Zyklen mehrerer Märkte gleichzeitig erscheinen und sich überlagern, was dann als “Rezession” bezeichnet wird, gibt es auch noch eine andere Art der Schwankung: Die Krise. Die Krise hat nur noch begrenzt und im  negativen Sinn mit den Märkten zu tun. Die Wirtschaftskrise entsteht erst, wenn sich signifikante Teile der Wirtschaft nicht mehr marktwirtschaftlich verhalten, sondern die Anforderungen der Märkte ignorieren und verleugnen. In solchen Situationen lösen sich Gier und Gewinnstreben vom Markt ab, und erfinden zum eigenen Nutzen Werte, die nicht vorhanden sind.

Dieser Kapitalismus tut plötzlich genau das, was die Marktwirtschaft verhindern sollte: Es entsteht das Paradox, dass sich der Kapitalismus nicht um den realen Markt schert und selbst einen Markt erfindet, diesen Markt Politikern und Medien über Lobbyisten, Bestechungszahlungen, PR-Mitarbeiter und Versprechungen nahe bringt. Solche Krisen, in denen das Kapital den Markt nicht mehr als Grundvoraussetzung begreift, an dem man sich orientieren muss, um zu überleben, und sich seinen eigenen Markt schafft, der schöner ist, leichter, mit weniger maulenden Mitarbeitern und Problemen, der Geld ohne Arbeit verspricht und andere Schlaraffenländer mehr, gab es in der Wirtschaftsgeschichte oft genug. Die Krise der italienischen Banken des 14. Jahrhunderts, die holländische Tulpenmanie, die Mississippi-Spekulation und die Südseeblase im 18. Jahrhundert: Zu jeder Zeit scheint der Mensch empfänglich für Zukunftsmärkte, die sich später als nicht existent herausstellen. Aber selbst solche Betrügereien schafften es nicht, global Unruhe hervorzubringen, sie waren regional begrenzt und in diesen Gesellschaften mit geringen physischen Geldmengen und Geldgeschäften beherrschbar.

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Im 20. Jahrhundert sieht das allerdings erheblich anders aus. Das Dritte Reich etwa bezahlte die Aufrüstung nicht mit Geld, sondern durch das System der Mefo-Wechsel, und es war offensichtlich, dass eine Bezahlung ohne Neuschulden und das Drucken von Geld nur durch den räuberischen Einsatz eben jener Waffen gegen andere zu beschaffen sei – allerdings zeigte sich bald, dass Hitler und seine Freunde aus der Wirtschaft den neuen Markt des 2. Weltkrieges mit krisenhaften globalen Folgen falsch eingeschätzt hatten. A propos neuer Markt: Auch der Neue Markt der Internetblase von 2000 war, mit den besten Beratern, Unternehmern, Journalisten, Politikern und Investoren versehen, ein weiteres Beispiel für dir Trennung zwischen dem exzessiven Kapitalismus der Börsengänge und der mauen Nachfrage des realen Markt nach neu geschaffenen Produkten. Der Aktionär glaubte, dass seine Internetklitsche mehr wert sei als die Lufthansa, der Politiker glaubte an die Jobmaschine Internet, und der Gründer glaubte, er sei der nächste Bill Gates.

Und nur 7 Jahre nach dieser letzten grossen Krisenerfahrung des Kapitalismus erwischte es nicht nur einen vom Kapitalismus erfundenen Sektor, sondern den Kapitalismus als solchen, und mit dem Geldverleih seine Existenzgrundlage. Die Krise entsteht, weil die Banken schon wieder entscheidende Bewertungsfehler bei ihren eigenen Kreditprodukten machen, und den Markt ignorieren. Aus Schulden schlechter Bonität wurden neue Pakete, es wurden Derivate konstruiert und Aufsichten gelockert, es gab jede Freiheit, aus Schulden neue Werte zu machen, die bei jedem Weiterverkauf im kapitalistischen System noch mehr wert wurden, die Bücher des Kapitalismus schwollen so an, dass die Marktwirtschaft eine Weile davon profitieren konnte. Das alles war möglich, ohne dass die zugrunde liegenden Papiere besser als der Eisbecher für 60.000 Euro gewesen wären, was man jetzt sieht, wenn Banken ihre Billionen, die sie nur in den Büchern hatten, abschreiben müssen. In Frankfurt, London und New York waren die Türme voll von Freunden der 60.000-Euro-Eisbecher. Und wenn die Schuldenkrise erst mal durch das massive Drucken von Geld und Inflation gelöst ist, wird uns allen der dieser Eisbecher mit 60.000 Euro gar nicht mehr so teuer vorkommen.

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Heute schon bekommt man nicht nur Collateralized Debt Obligations zusammen mit einer Finanzierung des Kaufs nachgeschmissen, man kann in der City of London auch gebrauchte Aston Martin DB7 für weniger als 15.000 Pfund erwerben. Zusammen mit dem in Folge der Krise zerstörten britischen Peso bekommt man auch den Porsche für nur 40.000 Euro. Oder noch weniger, je nachdem, wie verzweifelt der Händler ist. Nach der grossen Wirtschaftskrise von 1929 musste man in Amerika Autos verschrotten, deren Besitzer sich das Benzin nicht mehr leisten konnten. In Dubai stehen heute am Flughafen verlassene Autos von Leuten, die vor ihren Schulden flohen. Die Schlüssel stecken noch. Der aktuelle Kapitalismus hat den Wert eines Wagens schon auf unter einen Euro, auf Null gesenkt.

Diese Krisen des Kapitalismus aufgrund falscher Bewertungen verursachen erst danach die Krise der Marktwirtschaft. Die Versuche, wie gewohnt in der Kurve eines Wirtschaftszyklus gegenzusteuern und einen neuen Kurs einzuschlagen, sind sinnlos, weil die Fahrer des Wagens des Kapitalismus schon vorher von der Strasse der Marktwirtschaft abgekommen sind. Das Kreischen der Journalisten, PR-Handlanger, Volkswirte und ahnungslosen Politiker, das wir jetzt hören, ist nicht die Angst vor der Kurve, sondern die Erkenntnis, dass die Typen am Steuer schon seit einer Weile nur den Abgrund unter den Rädern haben, und das der Grund war, warum es die letzten paar Jahre so schön leicht und schnell gelaufen ist. Was man in London bei den G20 hoffentlich im Gegensatz zu Teilen der Presse verstanden hat, ist der Umstand, dass die Karre nicht gesteuert, sondern nach dem mehrfachen Überschlag, den wir jetzt erleben, aus der Schlucht gezogen werden muss: Leider von denen, die noch auf der Strasse der Marktwirtschaft geblieben sind. Das ist bei den Rasern aus deutschen Banken noch relativ einfach, denn hier gibt es noch eine funktionierende Realwirtschaft, aber die Reparatur der Schuldenwracks aus angloamerikanischer Produktion wird reichlich lange dauern. Sollten die Raser und ihre Fans bei der Bergung aus den Wracks herausfallen und in der Schlucht verbleiben, wäre es meines Erachtens alles andere als tragisch.

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Denn mit diesem durchgeknallten Kapitalismus, mit Nitroglycerin im Tank und Halluzinationen im Hirn, wird man die schwere Wegstrecke, die die Marktwirtschaft nun auf Jahre sein wird, nicht beherrschen. Dieser von jetzt an schlaglochübersäten Strasse mit vielen engen Kurven wird es egal sein, ob die Irren am Steuer schon wieder in die Schlucht rasen. Es wird immer eine Marktwirtschaft geben, manchmal wie bei den Derivatehändlern an der Wall Street und manchmal wie auf den Schwarzmärkten nach dem 2. Weltkrieg. Den Mittelweg zu finden, ist die Aufgabe der G20. Und das Herzensanliegen jedes Freundes der Marktwirtschaft, der nicht mehr für asoziale Raser zahlen will, die sich 70% mehr Gehalt gönnen und die Politik erpressen.