Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das grosse Drängeln in Brixen

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Klassenschranken muss man manchmal erst verstehen. Alte Klassenschranken sind uns heute mitunter fremd, wir laufen durch den Kreuzgang von Brixen und denken, das sei einfach nur schön bunt und nett anzuschauen: In Wirklichkeit aber gehen wir Jahrhunderten von Abgrenzung, Ausgrenzung und Ellenbogengesellschaft auf den Leim. Wie heute auch noch.

Wir finden innere Ruhe bei denen, die wir lieben, und wir schaffen in uns einen ruhigen Ort für jene, die uns lieben.
Bernhard von Clairvaux

Bild zu: Das grosse Drängeln in BrixenBrixen ist das, was man vielleicht als “altehrwürdig” bezeichnen würde; zusammen mit seinem Vorläufer, dem Bistum Säben ein paar Kilometer südlich, ist es eines der ältesten Bistümer des germanisch dominierten Raumes, und seit dem 10. Jahrhundert bis zum Jahre 1803 sind die Bischöfe nicht nur die geistlichen Herren Südtirols, sondern auch Territorialherren und gleichsam der Pfropfen im engen Hals der Brennerpasses. Wie üblich ermuntert so eine Lage im Gebirge nicht nur zum Gebet, sondern auch zu Zoll und Abgaben, zu Wegegeld und anderen Erlösen, etwa aus der Hilfe beim Überwenden von Pässen und Schluchten, was als Dienstleistung immer noch netter – und christlicher – als das Ausplündern durch die darüber und darunter ansässigen Wegelagerer und runtergekommenen Adligen ist. Die Geschäftsbeziehungen zwischen Bergbewohnern und Durchreisenden waren seit jeher reichlich einseitig, wie man im übrigen auch heute noch sieht, wenn man am Brenner Autobahngebühr entrichtet und damit das Recht erwirbt, auf einer drittklassigen Holperstrecke im Stau zu stehen. Der vielgerühmte kulturelle Austausch, dessen Spuren man in der Sachkultur so oft in den Bergen findet, war oft genug nicht wirklich freiwillig und von gewaltsamer Aneignung geprägt, und schneller beteiligte man sich am Bailout eines runtergekommenen Ministerialengeschlechts, als heutzutage eine Hypo Real Estate mit einem Hilferuf dem Steuerzahler am Beutel schneidet. Die geistlichen Herren von Brixen jedoch, denen Spenden und Ablässe, Taufen und Beerdigungen als Dienstleistungsbetrieb ein dauerndes und sicheres Einkommen garantierten, waren sich natürlich für solche allzu egoistischen Tätigkeiten zu schade. Offiziell.

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Inoffiziell hatten sie einen Kreuzgang rechts neben dem Dom. Dieser Kreuzgang entstand nach einem grossen Brand von 1172 im späten 12. Jahrhundert neu, und ist ein hübsches Besipiel für romanische Architektur: Kleine, feine Kapitelle auf den dünnen Säulen, Rundbögen, das typische Programm für einen Ort, da Kleriker im geistlichen Gespräch vertieft wandeln, ab und an nachdenkend vor einer Grabplatte stehen und sich der Vergänglichkeit des Diesseits erinnern, bevor das Glöcklein läutet und sie zur Messe eilen, wo sie Gott…

Man kennt dieses Bild der Geistlichkeit aus den Idealvorstellungen einen Bernhard von Clairvaux, aus den symbolistischen Romanen des 19. Jahrhunderts, vom stillen, giftmischenden Klosterbruder aus “Romeo und Julia”, aus Tausenden von Heimatfilmen und als Vorgänger des stillen Gelehrten, der in späteren Zeiten in die Bibliothek umzieht, und dennoch sein Leben ganz der Erkenntnis widmet. Kreuzgänge; Orte der Stille, der Einsicht und Reflektion. Und tatsächlich gibt es in Brixen auch eine Ecke des Kreuzgangs, der in jungfräulichem Weiss und unbefleckter Schlichtheit das Auge erfreut.

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Es ist diejenige Ecke, in der sich innerhalb des Kreuzganges auch profane Händler mit ihren Ständen aufhalten durften, Bettler, Chorschüler, Käufer, das ganze Plebs des Mittelalters. Diese jungfräuliche Ecke war so etwas wie der weltliche Teil, den man als Domherr über sich ergehen lassen musste, dort gab das Geld und der Pöbel den Ton an, denen überliess man eben eine Ecke, und dachte nicht daran, den Besuchern mehr als das – heute rein und vergeistigt erscheinende – Kalkweiss an Decke und Wand zu gönnen.

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Der restliche Kreuzgang, der den Klerikern vorbehalten war, ändert sein Aussehen schlagartig, wenn die Klassengesellschaft ihre Schranken senkte. Denn zuerst wurde der Kreuzgang mit einem gotischen Gewölbe überzogen, und danach wurde die Decke ausgemalt. Grob gesagt, verkaufte das Bistum Gewölbeteile an Kleriker, die einen Maler bezahlten, ihren Teil nach ihrem Gusto auszuschmücken. Für Kunsthistoriker ist es eine grosse Freude, innerhalb eines Kreuzgangs die Entwicklung der mittelalterlichen Malerei vom frühen 15. bis frühen 16. Jahrhundert nachvollziehen zu können, selbst wenn es ein, sagen wir mal, angesichts der Überfüllung eine leicht psychedelische Erfahrung ist.

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Den Stiftern ging es dabei durchaus um Selbstdarstellung. Es gab erkennbar keine Regeln, wie gross und wie dominant man sich selbst verewigen durfte, und durch die Zeit ist durchaus eine gewisse Steigerung der persönlichen Dominanz bei gleichzeitiger Reduzierung von Zurückhaltung und Demut festzustellen. Auf bayerisch gesagt: Man liess es krachen. Und zwar richtig. In der Selbstdarstellung und in dem, was man den Betrachtern sonst noch bot. Man musste das tun, man musste sich bei den Betrachtern einen Stammplatz ergattern und sich gegen die Konkurrenz durchsetzen, denn in der oberen Klasse herrschte ein Verdrängungswettbewerb: Alle paar Jahrzehnte, wenn der Kreuzgang wieder voll bemalt war und die alten Sponsoren auf den Grabdenkmälern Platz nahmen, verkaufte das Bistum die Gewölbe neu, für noch buntere, krassere und heftigere Bilder. Im 14. Jahrhundert reichte noch Rötelmalerei. Der Endzustand ist bunt wie unsere Werbewelt. Wer schreit, der bleibt.

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Es ist in gewisser Weise bezeichnend auch für unserer Rezeption der Vergangenheit, dass es ein falsch gemalter Elefant, das gerüsselte Pferd links, das ohne jeden logischen Zusammenhang gleich neben einer Grablege Christi anzutreffen ist, dieses wilde Gezappe und die Freude an krassen Darstellungen, der zertrampelte Elizier und der blutüberströmte Leichnam Christi – dass dieses von heutigen TV-Erfahrungen nicht weit entfernte Programm mit seiner Beliebigkeit immer noch erfreut, dem heutigen Menschen mit seinen schnellen Wechseln gar entgegenkommt und mitsamt der Werbung für die Sponsoren reichlich modern und zeitgemäss wirkt. Es wirkt, weil wir an mancherorts schemenhaft erkennbaren Rötelmalereien vorbeieilen, und damit den Chorherren in jeder Hinsicht recht geben. Auf die Ellenbogen kommt es an. Auch in der Oberschicht bekommt der Gewinner alles. Entweder man ist an der Spitze, oder man wird vergessen. 

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In der Ecke des Kreuzganges, von der aus der Weg in den Dom führt, und das am weitesten vom armen Pöbel der Händler entfernt ist, wird dann doch noch zu milden Werken für die Armen aufgerufen. Für die Bedürftigen, deren Bereich man kein Bild gönnte und sich lieber von nachfolgenden Generationen übertünchen liess, statt sein religiöses und privates Anliegen einer Schicht mitzuteilen, die man als nicht angemessen erachtete. Lieber unbekannt bleiben, als vom Pöbel beachtet. Das erklärt vielleicht auch, warum so viele reiche Leute der Gegenwart noch immer nichts mit Medien zu tun haben wollen.