Kein Gebäude kann ohne Ebenmass und gutes Verhältnis gut eingerichtet sein, wenn es sich nicht genau wie der Körper eines wohl gebildeten Menschen zu seinen Gliedern verhält.
Vitruv, 10 Bücher über die Architektur
Es gibt Monumente, die sollte man Nachts aufsuchen, wenn mit dem sächsischen Bustouristen der Leichenwurm der Kunstgeschichte im Bett liegt, das schreiende italienische Kind nur noch daheim die Mama nervt und der geistesgestörte Hupkonzertmeister von Verfolgungsjagden träumt. Die Kirche S. Andrea in Mantua ist so ein Gebäude, das am besten wirkt, wenn wenige Menschen zu sehen sind, und die Beleuchtung den Baukörper vor dem schwarzen Hintergrund des Nachthimmels leuchten lässt. Erst dann erschliesst sich diese Inkunabel der Renaissancearchitektur dem Betrachter, denn mit S. Andrea kehrt der klassisch-römische Monumentalismus nach 1000 Jahren zurück in die Architektur des Abendlandes. Ihr Baumeister ist Leon Battista Alberti, ein Universalgelehrter an der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, der mit diesem seinem letzten Werk endlich die Gelegenheit bekam, römische Stilprinzipien in einem einzigen Grossbau umzusetzen.
Alberti (1404 – 1472) war einer jener Renaissancekünstler, die konsequent nach Wegen suchten, mit der näheren Vergangenheit der Gotik, ihrem Menschenbild und Kunstverständnis zu brechen. In seinem Buch über Malerei sprach er sich für perspektivisch richtige Darstellungen aus, als die Gotik in Deutschland noch Figuren nach Lust und Laune in der Grösse variierte. Sein Buch über Statuen verlangt nach einem getreuen Abbild des Menschen. Und in seinem Buch über die Architektur vertritt er die Haltung der bei Vitruv überlieferten Antike, die da lautet: Architektur sei “Harmonie und Einklang aller Teile, die so erreicht wird, dass nichts weggenommen, zugefügt oder verändert werden könnte, ohne das Ganze zu zerstören.” Was eine skandalös neue Auffassung ist, wenn man sieht, wie zur gleichen Zeit in Brixen je nach Zahlkraft des Spenders Gewölbe überpinselt werden. Alberti möchte Gebäude aus einem Guss schaffen, schlicht, ebenmässig, gross und erhaben. Als Baubeauftragter des Papstes hat er viele Gelegenheiten, sich mit den Leistungen der Antike auseinander zu setzen und daran zu lernen. Alberti, selbst als uneheliches Kind geboren, glaubt, dass Elite nicht nur durch Geld und Herkunft, sondern auch durch Wissen und Bildung definiert wird. Nachdem er bis in sein hohes Alter jedoch nur Bestehendes umbauen oder mit neuen Fassaden ergänzen konnte, bekommt er in Mantua letztlich doch die Chance mit dem Neubau von S. Andrea, einer damals immens wichtigen Wallfahrtskirche, die Pilgern einmal im Jahr eine Phiole mit dem Blut Christi zeigt. Alberti verspricht dem Markgrafen Luigi III. Gonzaga mit markigen Sprüchen eine Kirche, die ausgesprochen gross, dauerhaft, würdig und freudig sein soll. Und schon das Portal ist eine Kampfansage an die Gotik: Der Entwurf kombiniert die klassische Tempelfront mit seinem flachen Giebel mit einem Triumphbogen mit Kasettendecke und Pilastern.
Alberti hält sich also gar nicht mit überladenen Bautraditionen der Gotik auf und präsentiert eine schlichte und monumentale Fassade, die die Antike wieder lebendig werden lässt. Im Innenraum geht er noch einen Schritt weiter, verwirft die damals üblichen Kuppel- und Kreuzgratgewölbe, und baut zum ersten Mal seit dem Ende der Antike wieder ein monumentale Tonnengewölbe über das Kirchenschiff und die Seitenaltäre. Heute würde man sagen, die Kirche ist komplett durchgestaltet, auch wenn später noch mit dem Altarraum und den Seitenarme Veränderungen angefügt wurden. Fassade und Kirchenschiff zeigen neue Wege auf, sie machen Schluss mit dem Kleinklein der Gotik, dem Stilgepansche späterer Hinzufügungen, es gibt einen genialen Baumeister, der alles in eine Form zwingt und damit einen Raum für die Ewigkeit schafft. Könnte man meinen.
Aber Alberti stirbt schon in der ersten Bauphase, und beim Tonnengewölbe über dem Hauptschiff geht das Geld aus. Statt echte Kassetten einzubauen, deren Herstellung teuer und zeitraubend ist, greift man zu Farbe und Pinsel und fälscht die Kassetten mit illusionistischer Malerei. Albertis fortschrittliches Menschenbild beziehen die Gonzaga mit einigen Missverständnissen auf sich selbst, und statt teurer Kirchengewölbe finanzieren sie lieber kleinere Kassettengewölbe in ihrem neuesten Projekt: Dem Palazzo del Te, ein Lustschloss vor der Stadt, ganz dem Vergnügen, dem Müssiggang und der Ausschweifung gewidmet. Man möchte heidnische Baukunst weniger dem Ruhm der Kirche zugänglich zu machen, als vielmehr die Antike als eigenes Rollenmodell zu nutzen. Im Palazzo del Teè inszenieren sich die Gonzaga als Herrscher in römischer Tradition, man hält sich seine Hetären, man gibt rauschende Feste und widmet seinen Pferden gemalte Monumente an der Wand. Christentum spielt hier keine Rolle mehr. Darüber biegen sich Tonnengewölbe mit feinsten Kassetten aus Stuck und Marmor, wie in der Antike –
und erneut sind sie ausgemalt, wie es dem Herrscher und dem Künstler gefällt. Nackte und Götter, Sagen und Sex, Besäufnis und Schlacht. Mit den Kassettendecken kommt nicht die römische Grösse und Schlichtheit zurück zur Gesellschaft, nicht der Ernst und nicht die Würde, sondern nur eine neue Mode der überladenen Projektionsflächen für gesellschaftliche Elite, ein Spielplatz für eitle Selbstverwirklichung, überladener Prunk, Angeberei. Es ist aber im Gegensatz zu Albertis schlichtem Monument auch ein Erfolgsmodell, denn überall in Europa versucht man bald, dem Vorbild der prunksüchtigen Gonzaga, weniger aber dem des gebildeten Alberti nachzueifern. Später, nachdem der Palazzo del Te fertig ist, wird man auch an S. Andrea noch mal rumpfuschen, auskleistern, überfüllen und Gold ankleben. Vielleicht hat Alberti das schon geahnt und den Raum seiner Kirche reichlich düster gestaltet, so dass die reine Form auch heute noch die schlimmsten, sich im Dunkeln verlierenden Zutaten der protzenden Gonzaga dominiert.