Nicht der Beginn wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten.
Katharina von Siena
Nähert man sich dem Dom von Siena von der falschen Seite, also vom Chor aus, führt eine Treppe hinauf zum Gipfel des Hügels, auf dem die Kirche errichtet wurde. Dort oben wartet eine mit gestreiften Marmorplatten verzierte Mauer und darin ein gotisches Tor, das den Zutritt zu einem der erstaunlichsten Bauwerke, oder besser, Nichtbauwerke des italienischen Mittelalters gestattet.
Man nennt diesen Baukomplex, oder was davon im Norden des Domes noch steht, den “Neuen Dom”. Nach dem Willen der “Rat der Neun”, der damals in Siena herrschte und das Goldene Zeitalter des Stadtstaates politisch dominierte, sollte an dieser Stelle die zweitgrösste Kirche der Christenheit stehen, nur kleiner als der damalige Petersdom, und all die Menschen aufnehmen, die das wirtschaftliche Wachstum von frühen Banken und Handelshäusern in Scharen in die aufstrebende Metropole zog. Siena war im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert gleich nach Florenz das Finanzzentrum Europas, Einnahmen aus Geschäften in ganz Europa strömten in die Stadt, am Geld würde das Vorhaben kaum scheitern. Der alte Dom ist zwar auch nicht gerade klein, war aber nicht gross genug, um mit der schnellen Entwicklung der Stadt Schritt zu halten. Heute gehen Touristen achtlos an in den Boden eingelassenen Marmorplatten vorbei, ohne sich zu wundern, warum hier diese Orte auf einem Platz zu sehen sind.
An dieser Stelle sollten die Säulen des neuen Kirchenschiffs stehen, das den alten Dom geradezu winzig hätte wirken lassen. Die Idee der Sieneser war, am nördlichen Querschiff der Kathedrale ein neues, gigantisches und überbreites Langhaus anzubauen, und so den gesamten alten Dom zu neuen Querschiffen und Chorraum umzuformen. Nebenbei hätte man damit Florenz gezeigt was eine Harke ist: Denn der Dom in Florenz wurde gegen 1300 in seinem Bauvolumen so geplant, dass er den Dom in Siena übertroffen hätte. Beide Bauten sind Kinder des 13. Jahrhunderts, in dem die Wirtschaft blühte, die Bevölkerung wuchs und der technische Fortschritt keine Grenzen zu kennen schien. Man baute damals für unsere heutigen Begriffe durchaus modern: Nicht für die Gegenwart, sondern für den Bedarf der Zukunft mit hohen Wachstumsraten ohne fundamentale Krisen. Es ist kein Zufall, dass diese Erwartungshaltung, dieses Vertrauen auf eine positive Entwicklung mit dem Aufstieg der Banken zusammentrifft, die aus Zinserträgen und Einnahmen in der Lage zu sein schienen, schon heute für den Profit von morgen zu garantieren. Der neue Dom war also eine Investition in die Zukunft der Stadt.
Immerhin gelang es in wenigen Jahrzehnten, den nötigen Platz zu beschaffen, die Hügelspitze zu fundamentieren, und Teile der Umfassungsmauern zu erreichten. Am Nordportal, dessen Bau fast abgeschlossen war, kann man zumindest die gewaltigen Dimensionen und die feine Qualität der Architektur erahnen, die hoch, schlank und himmelsstürmend sein sollte. Statt zuerst das Gebäude zu errichten und sich danach um den Schmuck zu kümmern, baute man gleich richtig mit allem Luxus, der zu dieser Zeit modern war. Auf die Maurer folgten die Marmorhandwerker, die das Gebäude in seiner Schwarz und Weiss gestreiften Pracht erscheinen lassen sollten. Raum war wichtig, aber wichtiger schien es zu sein, einen Raum zu haben, der etwas her machte.
Diese Haltung erfreut heute Bauforscher, die an den Resten des Neuen Domes nachvollziehen können, wie die Bauhütte damals die Arbeit organisierte, welche Techniken zur Anwendung kamen und wie Bauabschnitte in Angriff genommen wurden. Mitunter sind Bauteile wie Fenster fast fertig, nur ein paar Kapitelle müssten noch angefügt werden, und man könnte die Gläser einsetzen. Allerdings kam es nie dazu, aufgrund von Fehlern und Entwicklungen des Mittelalters, die für uns im 21. Jahrhundert äusserst modern wirken. Zuerst, in den 20er und 30er Jahren des 14. Jahrhunderts, gingen die Sieneser Banken reihenweise Pleite. Wie später auch die Florentiner Banken hatten sie riskante Wetten auf das Wirtschaftswachstum anderer Regionen und ihre möglichen Erträge abgeschlossen. Als diese Hoffnungen sich nicht erfüllten, kam es zu Bank Runs, bei denen Teilhaber ihr Geld aus den Banken abzogen, die dann zusammenbrachen. Überhaupt waren die Banken damals keine langweiligen Sparkassen, sondern eher das moderne Finanzinstrument, das wir heute als Hedge Fonds bezeichnen: Hochriskant, immer auf der Suche nach Fürsten, die jetzt Geld brauchen und dafür zukünftige Einnahmen verpfänden, mit der Chance auf enorme Gewinne, aber auch eine Katastrophe, wenn es mal nicht so gut läuft.
Wie die Finanzwirtschaft hatte auch die Architektur kalkuliert: Um möglichst schnell einen möglichst grossen Baukörper zu errichten, hatte man bei der Fundamentierung gepfuscht. Statt für den unsichtbaren, aber wichtigen Teil ordentlich Geld in die Hand zu nehmen und sich Zeit für die nötigen Berechnungen zu lassen, vergnügte man sich offensichtlich lieber am eitlen Bauschmuck, den heute die Tauben mit Kothaufen bedenken. Wie sich bald zeigte, waren die Fundamente viel zu schwach, und eine Verstärkung hätte bedeutet, dass man weite Teile des Neubaus hätte abreissen müssen. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, erreichte auch die 1348er Pest die überfüllte Stadt und raffte deren Einwohner dahin. Die Nachfrage nach zusätzlichen Plätzen in der Kirche war damit ebenso erloschen, wie deren Finanzierungsquellen.
Natürlich geben es die Mächtigen nur ungern zu, wenn sie falsch geplant haben. Der Rat der Neun holte Gutachten ein, sprach mit Baumeistern und nutzte die Pest als Anlass, den Bau eine Weile ruhen zu lassen – schliesslich hatte man gerade andere Probleme. Probleme, die jedoch umfassender als die banale Seuche waren. Der Rat der Neun, der die Geschicke Sienas über 70 Jahre geleitet hatte, war zu einer Oligarchie verkommen, oder auch zu einer sich bereichernden Kleptokratie, die Gewinne einstrich und die Kosten über Steuern sozialisierte, dass man sie als historisches Vorbild für aktuelle Krisenländer wie England, Irland und Island begreifen könnte. 1355 reichte es der Bevölkerung, und sie wischte die alte Herrschaft mit einem Aufstand weg. Ein neu gegründeter Rat der Zwölf setzte sich aus Vertretern der unteren Schichten zusammen, und nachdem sich der Stadtstaat in schlechter Verfassung zeigte, wurde das Prestigeprojekt der alten Elite schnellstens eingestellt. Heute ist der geplante Stolz einer Finanzsupermacht ein Parkplatz mit gotischer Umrahmung, über den die Touristen zum nächsten Restaurant eilen, unbeachtet und meist frei von Schaulustigen. Obwohl es bis heute ein Musterbeispiel für modernes Finanzmanagement, politischer Führung und symbolhafter Herrschaftsarchitektur zur Beeindruckung und Anleitung von Menschen ist, sowie deren Fähigkeit, die eine schlechte Regierung durch eine auch nicht bessere Regierung unter Hinterlassenschaft von Ruinen zu ersetzen.