Es gibt Leiden, von denen man die Menschen nicht heilen sollte, weil sie der einzige Schutz gegen ernstere sind.
Marcel Proust, Die Welt der Guermantes
Wo geht eigentlich all das Vermögen hin, das man erworben, geerbt oder erheiratet hat? Was tut man mit jenem Geld, von dem man nicht spricht, wenn man es nicht anlegt, sondern standesgemäss ausgibt?
Die Antwort, und da reicht es leider, mich selbst zu betrachten, ist banal und wenig schmeichelhaft gleichermassen: Man ist in Fluchten aus Realität und Gegenwart investiert. Ein Gutteil der Freizeit, die ein anderer in einer Heldenrolle eines brutalen Videospiels, beim phantasievollen Betrachten von Geschlechtsakten oder dem Versenden von Kurzmitteilungen in der falschen Hoffnung zubringt, andere würden ihn deshalb schätzen, verliert man gerade mit konservativer oder reaktionärer Grundhaltung nicht anders: Mit Vor- und Selbsttäuschung, durch künstliche Belebung definitiv vergangener Werte und Welten. Man betrachte etwa den Anachronismus der überbordend gedeckten Tische, mit denen man Gastgebertugenden zeigt, die allgemein nicht mehr gefragt sind. Man sehe die Bekenntnisse zu religiösen Feiern ohne jeden Glaubensinhalt. Die Eltern möchten ihren Ring des Nibelungen in altdeutscher Inszenierung, die Söhne schätzen die Mille Miglia, und die Töchter tun zumindest so, als wären sie ernsthaft an einer längerfristigen Bindung interessiert.
Nun könnte man mit Luis Buñuel sagen, dass dies alles entsetzlich verlogen ist, und damit nur Abgründe überdeckt werden – jedoch, es ist exakt so seicht und bedeutungslos, wie man es erlebt, keine tieferen Obsessionen lauern hinter den ruhigen Oberflächen, keine Peitsche findet sich im Biedermeiersekretär und kein Latex im Kleiderschrank, nur das unbestimmte Gefühl, dass auf dem Weg durch die Zeiten Wichtiges verloren wurde, und man zumindest versuchen sollte, das Vergangene als Teil der Gegenwart zu erhalten. Das kann immens anstrengend, ermüdend und teuer werden, wenn die Tochter den falschen Mann heiratet oder man sich breitschlagen lässt, die Meistersinger zu erdulden. Es geht aber auch für einen Obolus von 6 Euro, die am Tor der Giardino Giusti zu entrichten sind.
Früher war der Eintritt frei, und entsprechend voll war dieses Kleinod der Gartenbaukunst inmitten von Verona. Heute jedoch sind die 6 Euro ausreichend prohibitiv, um jene draussen zu halten, die “für ein paar Bäume und Sträucher” nie bereit wären, mehr als das Doppelte des Eintritts für den Dom zu bezahlen, wo sie unachtsam am dunklen Tizian vorbeigehen und die Engerl “so lieb” finden. Der Giardino Giusti ist, verglichen mit den Gärten des Rokoko, unspektakulär, sehr klein und vollgestopft. Kenner jedoch wissen um die frühe Entstehung des Parks im Jahr 1580, und loben sie als seltenes und erstklassiges Beispiel für eine Gartenanlage der späten Renaissance.
Es ist gerade an heissen Sommertagen ein höchst angenehmer Ort. Aus den Grotten dringt kühle Luft, Bäume spenden Schatten und Wasserspiele plätschern artig vor sich hin. Der Garten mag klein sein, aber er hat alles im richtigen Mass und Verhältnis, er ist nicht prunkvoll, aber sehr fein ausgewogen. Man kann auf ein paar tausend Quadratmetern stundenlang verweilen und gehen, auf dem Belvedere rasten und sich im Labyrinth verlaufen, ohne dass sich das Auge je langweilen würde. Hinter den Mauern liegt das hektische Verona mit seinen geschäftigen Strassen, es muss dort sein, aber hier hat es aufgehört zu existieren.
Es ist einfach weg. Wie auch alles andere. Mag dort draussen ein Autowerk untergehen oder das Kabinett die Internetzensur abnicken, egal, ob sich eine Ministerin nicht entblödet, im Lesen das “Chillen” zu entdecken oder die Briten neue Peseten drucken – das einzige Unglück hier ist, nicht Pietro Bembos Asonaler Gespräche eingesteckt zu haben, oder wenigstens die spitzen Findigkeiten, die Aretino seine Nanna vortragen liess. Man flieht hier nicht der Gegenwart, es ist, als habe sie jemand ausgeschaltet und den Kalender um zwei, drei, vier Jahrhunderte zurückgeblättert, und dann das Tor verschlossen, auf dass die Unannehmlichkeiten der Vergangenheit ebenso fern bleiben, wie die Zumutungen der Moderne. Es findet sich in diesem Garten kein Beweis für eine chronologische Festlegung, er ist alt und zugleich zeitlos; Goethe und Mozart werden sich in ihrer Zeit nicht anders gefühlt haben, als sie hier lustwandelten.
Am Tegernsee schrauben sie Schilder mit der Aufschrift “Privatstrasse” an die Laternen, um andere draussen zu halten, im Westviertel kaufen sie Nachbargrundstücke, um Nachbarn zu verhindern, die Gästelisten der Gartenparties werden so lange gefiltert, bis alles für ein paar Stunden harmonisch wirkt, aber hier, in diesem kleinen hortus conclusus in Verona geht all das ganz von alleine und natürlich. Distinktion, Elitenbildung, komplexe Regeln, all der millionenteure Tand der Abschottung, der ganze Industrien am Laufen hält, und mit dem sich die bessere Gesellschaft ihrer selbst vergewissert – überflüssig, dumm, man darf gar nicht daran denken, dass diese Krücken hier Eingang finden könnten. Es würde nur stören, die Luft, die Sonne und die Musik.
Klassische Musik. Aus jenem burgartigen Gebäude links im Bild, das sich am Rande des Parks befindet. Die Musik erklingt just in jenem Moment, da man sich wünschen würde, etwas Erhebendes zu hören, wie im Schlaraffenland der Kultur, und dazu gibt eine italienische Frauenstimme Anweisungen. Hinter den geöffneten Fenstern, aus denen die Musik in den Garten dringt, drehen sich Mädchen mit hochgesteckten Haaren in eben jenen Figuren, ohne die bessere Erziehung nun schon seit Jahrhunderten wohl kaum auszukommen in der Lage ist; um das Ensemble perfekt zu machen, hat man die Ballettschule der Stadt an eben jenem Park untergebracht.
Nun ist Ballett wie kaum eine zweite Betätigung dazu geeignet, jungen Mädchen Flausen in den Kopf zu setzen, wie man erfährt, wenn man die extravaganteren Angebote des zweiten Heiratsmarktes begutachten darf. Spitzentanz schafft spitze Zungen, Sprünge machen sprunghaft, und Pirouetten sorgen für den Eindruck, die ganze Welt drehe sich um sie. Will man aus Töchtern unzeitgemässe Diven machen und die Grundlage für Scheidungen legen, gibt es nichts besseres als Ballett.Zumindest in meinem Umfeld ist ein direkter Kausalzusammenhang zwischen pompösen Hochzeiten, Rosenkriegen und Tanzunterricht bei einer gewissen Dame der Gesellschaft evident. Weshalb ich das meiner Tochter, so ich eine hätte, verbieten würde.
Zumindest, solange die Alternativen nicht Abhängen mit Hiphoppern, Komasaufen, ein BWL-Studium oder das Lesen der gesammelten Werke von Friedrich Merz wären. Hier in Verona aber werden andere die Launen erdulden müssen, die im Schatten junger Mädchenblüte gedeihen, gedeihen müssen, wenn sie über der Kulisse des Giardano Giusti anmutig ihre Kreise drehen. Sie werden ein vollkommen falsches Bild der echten Welt mitnehmen, voller artig geschnittenem Grün, klassischer Schönheit und Drill zu richtiger Haltung, jede Bewegung hat ihre Regeln und jede Anmut ihren Schmerz, die ausgesperrte Realität wird später an ihnen brennen wie flüssiges Magnesium an der Luft, aber hier sind sie die Apotheose eines idealen Gartens, das fassungslose Staunen des Betrachters ob eines überkommenen und lebendigen 19. Jahrhunderts, in dem man Stunden sein und alles andere vergessen kann, und allenfalls leise lächeln über millionenteure Bauprojekte von abgeschlossenen Siedlungen im weltenfernen Berlin, in denen sich die Oberschicht mit Zaun und Pförtner zu Luxuspreisen geschmacklose Blasen der schlaffen Langeweile mit Halogenspots und Leipziger Schule schaffen. Andere auszusperren bedeutet, sich von ihnen einsperren zu lassen.
Der Giardino Giusti, in dem die anderen einfach ausgeschaltet sind, liegt an der Via Giardino Giusti in Verona, hat bis 19 Uhr geöffnet, und der Pförtner ist sehr nett und zuvorkommend. Draussen, man mag es kaum glauben, wird es dann fast noch besser.