“Danke, good bye”, sagte ich und ging, die Glacéhandschuhe überstreifend,, ohne Eile hinaus, ganz langsam und erhobenen Hauptes wie eine Königin.
Dacia Maraini, Aus den Memoiren einer Diebin
Man möchte kein Bochumer sein. Man möchte auch kein Rüsselsheimer sein, und drüben schon gleich gar nicht, aber das wollte man ja ohnehin noch nie. Aber es ist noch nicht so arg lang her, da war Opel ein respektabler Autohersteller, und die heutige “die Boomregion Deutschlands” – so steht das bei uns im Lokalblatt – scharaubte Mofas und Kleinstwagen zusammen. Wie beim Paternoster: Die einen steigen auf, den anderen fällt der Boden unter den Füssen weg. Bochum war früher reich und hässlich, und die Boomregion war arm und schön. Heute ist Bochum immer noch nicht wirklich schön, aber arm. Die Boomregion ist wunderhübsch herausgeputzt, kaum ein Haus in der Altstadt erstrahlt nicht, und die Stadtverwaltung weiss gar nicht mehr, wohin mit dem Geld.
Bochum dagegen ist, sagen wir es schonungslos, am Ende. Wenn Opel dort dichtgemacht wird, fallen mit indirekten Auswirkungen ein paar zehntausend Stellen weg. In einer Region, die ohnehin schon stark geschwächt ist, seitdem man keine Kohle mehr braucht. Nebenan liegt Gelsenkirchen, darunter aufgelassene Schächte. Bochum ist der Ort, an dem man nicht sein will, und doch ist Bochum die Zukunft: Die Zukunft eines Landes mit Problemen in den schlechteren, sich überlebt habenden industriellen Zonen.
Ganz gleich, wie die Hasardeure aus Politik und Wirtschaft am Ende übereinkommen: Man wird sich mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass die Grube mit all dem schönen Geld leer ist, und die Unternehmen sich davonmachen. Opel-Freier Magna aus österreichisch-Vorrumänien, wage ich zu behaupten, ist ein selbst nicht gut dastehender Zulieferer, der eine Möglichkeit sucht, an den Tropf des deutschen Steuerzahlers zu gelangen; ein verzichtbarer Zulieferer auf der Suche nach einer Chance, to big to fail zu werden. Es ist absehbar, dass Bochum bei diesem Spiel zuerst zum Drohpotential und dann, nach ein paar hundert Millionen, abgewrackt wird. Mit allen Folgen, die man sich nach einer Bundestagswahl eher leisten kann.
Historisch gesehen sind solche Entwicklungen normal; aus der Weltmacht England wurde nach dem zweiten Weltkrieg erst ein Art Gross-Bochum auf einer Insel und nun, mit dem Industrieersatz der Banken, Gross-Island an der Themse. Hamburg war früher einmal Welthafen, Wien die Hauptstadt einen Weltreiches, Venedig eine Handelsnation; dort jedoch hat sich das ein oder andere gehalten, was nun ästhetisch anregend verfallen und versinken kann; Bochum jedoch…. Bochum hat das Pech, nicht als glänzendes Zentrum unterzugehen, sondern als Industrieregion. Und das geht dann eher in Richtung Bitterfeld, Chemnitz und andere Regionen von Vorder- und Hintersibirien.
Geschrumpfte Städte wie Schwaz, Brügge, Orvieto oder Konstanz, denen in der frühen Neuzeit die Märkte und Industrien weggebrochen sind, all die Siedlungen, aus denen nur die Flucht blieb, um nicht zu krepieren, weisen nun jenen den Weg, die in Bochum ohnehin kaum etwas zu verlieren haben. Für Mieter ist es ein leichtes, derartige Städte zu verlassen, wenn die Lichter ausgehen und der Kraftwagen woanders von den Bändern rollt. Das Fehlen eines festen Besitzes, seit je her Zeichen der Oberschicht, erlaubt es, sich schnell den Gegebenheiten anzupassen. Natürlich wird Bochum nicht über Nacht zur Wüstung, aber man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass dort in naher Zukunft 20000 Menschen weniger arbeiten werden. Und etwas besseres als den Tod in Bochum findet man überall, also: Wer sollte es ihnen verdenken?
Jene, die bleiben müssen. Man mag glauben, dass jene, die man gemeinhin als “vermögend” bezeichnen kann, als erste verschwinden und den Rest seinem Schicksal überlassen. Nichts könnte fälscher sein; allein der Neureiche, dessen Vermögen eher in seinem Auto denn in seiner Wohnung steckt, kann sicher ohne Probleme an Orte gehen, wo andere Neureiche sind. Vor der Pest konnte man davonlaufen, um dann nach dem grossen Sterben heimzukehren. Aber Auswandern? Für Menschen, die über Generationen und Jahrzehnte mit einer Region verbunden sind, die ihnen Glück brachte, ist das so gut wie unmöglich.
Man verstehe mich nicht falsch; schon die Hartknäckigkeit, mit der sich das römische Patriziat an die Ruinen Roms im frühen Mittelalter klammerte, hat weder ihm selbst noch der Stadt gut getan. Diese erstaunliche Beharrung ist ein Ausdruck mangelnder Alternativen. Man ist nur dort etwas, wo man ist. Man bleibt bei dem, was bleibt. Wie soll man auch weg? Wer in Bochum heute das zehnfache dessen an Immobilien besitzt, was er selbst für sich benötigt, und somit als vermögend gelten kann, wird kaum in den Markt einer schrumpfenden Stadt hinein verkaufen können. Sinkende Mieteinnahmen sind dagegen weiterhin echtes Geld und keine realisierten Verluste. Man kann Häuser nicht verkaufen, als wären es Brötchen. Schon gar nicht in einer Stadt wie Bochum.
Am Tegernsee ist das übrigens ganz anders, dort könnte man momentan alles verkaufen – nur denkt gerade keiner daran, diese sichere Region mit ihren Kliniken, Bergen, Aufspritzern und Urlaubsgästen zu verlassen. Es wäre aber auch nicht genug Platz für die Restreichen der Stadt Bochum: Bei 400.000 Einwohnern könnten sich 40.000 für meinen Wohnort qualifizieren. Der wäre dann von Bad Tölz bis zum Spitzingsee voll, randvoll. Die Regionen, die sicher sind und deren Reiche das Problem nicht so wie die Unglücklichen aus Bochum fühlen, haben im Moment keine Kapazitäten frei. Die Krise, deren Teil Bochum ist, verschärft die Trennung des Landes in Regionen, in die jeder will und nur wenige können, und die anderen, in die jeder könnte und keiner will.
Natürlich wird die Politik alles tun, um solche Gedanken erst gar nicht aufkommen zu lassen; man wird das Ruhrgebiet 2010 mit Kultur noch etwas bunter pinseln und Trinkhallen streichen; man wird Förderungen versprechen und täglich neue chinesische und arabische Investoren empfangen, während die russischen Freunde von Magna mal wieder Geld brauchen, um ihre Schulden zu restrukturieren. Deutschland war nie “ein Land”, weder zu jenen Tagen der Schlotbarone, als die Elite in Bayern sich noch über Tagwerke definierte, noch heute, da man sich weigert, sinnlose Überkapazitäten ohne milliardenteure Nebelwerfer der politischen Einflussnahme abzubauen. Natürlich ist es für Bochum schrecklich, Man möchte kein Bochumer sein, und schon gar kein Bochumer, der die Schattenseiten seiner Klassenzugehörigkeit mit der Unmöglichkeit der Veränderung erfahren muss.
Glücklicherweise ist der Klassenbegriff, der in diesem Projekt so geschätzt wird, einer mit langen Laufzeiten. Ich will nicht ausschliessen, dass es in 100, 200 Jahren wieder ein Vergnügen ist, Bochumer zu sein und an jene zu vermieten, die aus dem untergegangenen Hamburg fliehen mussten. Manches renkt sich nach ein paar Dekaden wieder ein; schlimmstenfalls wird man eben ein paar zehntausend Wohnungen – dann sicher wieder mit Staatshilfe – abreissen. In zwei Generationen ist die kommende Bochumkrise, die später weite Teile des Landes erfasste, nur noch eine blasse Erinnerung, geprägt von Bildern schwitzender Politiker und hoher Abwanderung. Aber trotzdem möchte ich kein Bochumer sein, und schon der Gedanke daran lässt mich zur Überzeugung kommen, dass ein wenig Ablenkung mit Italienbildern das Schlimmste des Unvermeidlichen dämpfen kann.
Begleitmusik: In Erinnerung an die gute, alte Zeit möchte ich zu Georg Kreislers Chanson “Gelsenkirchen” auf dem Tonträger, idealerweise der schwarzen Platte “Everblacks” raten, der in unnachahmlicher Weise die Reize der Region einzufangen wusste. Überhaupt höre ich im Moment gerne Kreisler, dessen Zugang zu unserer schönen Welt mir im Moment sehr angemessen und nur halb so zynisch wie jenes ist, was führende Mitglieder der Gesellschaft aus Politik und Wirtschaft zwischen Rüsselsheim und Bochum so treiben.