Arlequin: Ach, Liebchen, Du Leckerbissen meines Herzens!
Pierre Calvet de Mariveaux, Die falsche Zofe
Wie kann man nur. 2005 wollten deutsche Wirtschaftsverbände, und in ihrem goldgischtigen Kielwasser auch die FDP im Bundestag, den Pfingstmontag als gesetzlichen Feiertag abschaffen. Als gäbe es zu viele, schöne Frühlingstage, als könne man darauf verzichten, nach draussen zu gehen, über Wald, Wiesen, Siedlungsgebiete, Blockareale, Abraumhalden, Einkaufsmüllhalden oder was sonst in Deutschland in der Landschaft zu finden ist, zu fahren und die gerade eröffneten Erdbeerfelder aufsuchen. Wo man in trauter Einmütigkeit die eine Hälfte der Früchte in Körbe und die andere in die sonst vom Müllessen aufgedunsenen Wohlstandsmägen lauter Kinder stopft.
Ich mag Erdbeerfelder. Selbst, wenn sie eine Erscheinungsform von grösseren Städten sind, in denen nur noch eine Minderheit einen eigenen Garten hat, und ein hohes Einkommen, mit dem die Frau daheim bleibt und sich um den Garten kümmern kann. Erdbeerfelder kamen in meiner Heimatstadt ungefähr gleichzeitig mit dem Niedergang des Hausfrauenstandes und dem Erreichen des Status einer Grossstadt auf. Erdbeerfelder reagieren auf die Nachfrage nach Früchten im Übermass, die man, so man auf der richtigen Seite der sozialen Schichtung geboren wurde, als Kind im eigenen Garten kennen lernt, und schmerzlich vermisst, wenn man in der Studienzeit plötzlich mit Preisen für banale Früchte konfrontiert wird, die selbst bei üppiger Apanage prohibitiv sind. Irgendwann wurde aus der grenzenlos vorhandenen Erdbeere des heimischen Gartens die Delikatesse mit leider eher unklarer Herkunft, oft auch geschmacksneutral und unten im Körbchen matschig.
Das Erdbeerfeld dagegen ist ein kleines Paradiesgärtlein, ein Schlaraffenland und das Versprechen, dass immer genug da sein wird. Für alle, ohne Unterschiede. Und so kommen denn auch alle, der russische Spätaussiedler wie die Kleinfamilie, und auch die Frau B., die, unter der Last ihrer Feiertagseinkäufe gebeugt, mich auf dem Wochenmarkt fragte, ob denn schon Erntezeit sei.
Ich konnte das bestätigen; schwere, rote Früchte tragen schon den ersten süssen Fäulegeruch in meiner Nase. Denn das Erdbeerfeld liegt nicht irgendwo, sondern dort, wo meine Eltern wohnen. Wenn man so will: Ich bin neben einem Erdbeerfeld aufgewachsen. Das Erdbeerfeld ist in der Folge nicht “irgendwo” verortet, sondern exakt zwischen den beiden Teilen des sogenannten Prominentenviertels meiner Heimatstadt, und an der Zufahrtsstrasse zum einzigen nennenswerten Naherholungsgebiet. Es kommt, wie schon erwähnt, jeder hier vorbei, der eine mit dem Rad, der andere mit dem Auto, und so gibt es an Tagen wie diesem sogar etwas, das man sonst bei uns nicht kennt: Parkplatzprobleme. Schliesslich sind die Grundstücke umfangreich, die Mauern lang und die Autos in Doppel- oder Dreifachgaragen. Es sieht in der Strasse aus, als wären plötzlich Dutzende von Putzfrauen und Maniküren gekommen, so viele ungewohnt kleine Fahrzeuge stehen vor den Häusern, und der Herr P. mit seinem 911er muss schon etwas kurbeln, um aus der Einfahrt zu kommen.
Erstaunlicherweise ist das alles unproblematisch. Noch vor ein paar Wochen etwa tönten ungewohnte Worte durch das kleine Viertel: Der Chefarzt nämlich, der mit dem Autohausbesitzer gegenüber nicht wirklich das beste Verhältnis hat, und zudem, was dem Revierverhalten stets als Anreiz dient, auch noch spät hierher gezogen ist, hatte vor dem Mäuerchen des Autohausbesitzers seinen Einkaufskombi abgestellt. Der ungehaltene Nachbar behauptete daraufhin, das wäre nicht legal, diese Strassenseite gehöre ihm, und da dürfe nur er seinen Wagen abstellen – schliesslich zahle er auch die Anliegergebühren. Dafür, dass der Streit letztlich erst durch einen Anwaltsschriftverkehr zugunsten des Chefarztes ausging, herrscht nun bemerkenswerte Ruhe ob der feiertäglichen Invasion.
Aber so ist das eben schon immer gewesen: Die einen mussten irgendwie zum See kommen, die anderen wohnen dort. Die einen mussten Parkplätze suchen, wenn sie sich durch den Verkehr gewühlt hatten, die anderen waren schon vorher da. Man kann die parken lassen, wenn sie schon woanders wohnen müssen. Und so treffen sich alle Stände und alle Schichten an diesem Tag auf dem Feld, Mütter lüften Kinder und Hunde müssen leider draussen bleiben, schwangere Bäuche der langen Wintertage zeichnen die Beifahrinnen aus, und feine Körbchen und Sonntagsstaat die Glücklichen, die mal schnell Erdbeeren holen gehen können. Danach müssen die einen wieder in ihre glühenden und klimatisierten Autos, die anderen -Thorben! Julia! Aufpassen! – bugsieren den überfressenen und nun kurventorkelnden Nachwuchs auf den Rädern heim, und unsereins geht nach Hause und spricht dabei über die neuesten Verwerfungen der besseren Kreise.
Aber für einen Moment war es eine einzige, grosse, freie und gleiche Gesellschaft. Keiner musste arbeiten, alle hatten das gleiche Ziel, jeder konnte essen, so viel er wollte, und nachher ist allen gleich schlecht. Eine intakte Gesellschaft braucht solche Erfahrungen, dafür kann man auch den Stau kleiner Autos erdulden, und die nicht immer angemessenen Manieren des Nachwuchses, die auch ihre Funktion haben: Irgendwo muss man sich ja auch seine Abschreckung holen, um reich, kinderlos und glücklich zu bleiben. Es ist Frühling. Bei manchen muss man an Erich Mühsam denken, der schrieb: “Die Gebeine harren der Bestattung/ währenddem die Früchte der Begattung/ fröhlich ins Bereich des Lebens ziehen.” Es gibt wohl nicht ganz zufällig Kondome mit Erdbeergeschmack*.
Danach ist alles wieder anders. Die einen fahren heim und kippen vielleicht kiloweise Zucker und Joguhrt darüber, andere machen Marmelade, und das, was meine Eltern für den Früchtekorb nicht brauchten, landet bei mir auf der Pfeilerkommode in den reizenden kleinen Terrinen, die ich in Mantua bei jenem Juwelier erstand. Die Illusion einer runden, gleichen Gesellschaft bekommt die altbekannten Risse, die einen schlingen die Feldfrüchte ohne Stil, während das Kind im Computer Ausserirdische mordet, die anderen geniessen sie über einem guten Buch, und nur irgendwo zwischen Strassburg und Brüssel oder auch vielleicht ganz woanders, wer kann das schon sagen, überlegt vielleicht wieder eine Politikerin ganz ohne Erdbeeren, wie man die Wirtschaft durch Abschaffung jenes Feiertages in einer Art von Faulpelzen entlasten kann, die dem Staatenbund bei seinen Abgeordneten mit ihren Fehlzeiten eher verwehrt bleiben wird.
*zumindest wurde mir das so berichtet.