Ab und zu verschwand er auf dem Rad und kam dann doch wieder zurück.
Cesare Pavese, Der Teufel auf den Hügeln
Den ersten echten Arbeiter lernte ich mit 17 Jahren kennen. Arbeiter im Sinne von “schafft etwas mit der Hand in einer Fabrik”, und kennenlernen im Sinne von “war ich mit dem mehr als nur mal einen Tag unterwegs”. Meine Eltern waren so freundlich, mir einen Ferienjob beim globalen Marktführer der dummen, kleinen Stadt an der Donau zu vermitteln, was nicht weiter schwer war, weil die fraglichen Verantwortlichen die Strasse runter wohnten. Ich arbeitete vier Wochen im Bereich der Installation von Rohren für technische Gase, lernte viel über Gewindeschneider und Kurvenradien von Kupferrohren, und nahm das alles gelassener hin, als man es von jemandem erwarten würde, der qua Herkunft eigentlich nie mit diesen Kreisen in Kontakt kommen müsste. Für das Geld kaufte ich mir einen Uecker und einen Fuchs.
Den ersten Werber lernte ich dagegen erst nach dem Ende meines nicht allzu kurzen Studiums kennen. Das allerdings eher im Sinne von “ich war mit dem mal einen Abend unterwegs”, namentlich im Rahmen sogenannter Pressetermine. Es gab ein paar Werber, mit denen ich mal einen Abend unterwegs war. Und ich war mittelfristig weniger begeistert. Vermutlich wusste mein Vater schon, warum er mich mit 17 Jahren bei den technischen Gasen und dem Rohrbiegen untergebracht hat, und nicht bei den diversen Geschäftspartnern, die sich im Bereich der Werbung, der PR und der Politikkommunikation herumtrieben.
Denn Rohre braucht man. Unsere Wirtschaft ist hochgradig abhängig von Rohren; jede grössere Firma ist eine gigantische Bombe, wenn bei den Rohren und ihrer Verlegung geschlampt wird. Die Männer in meiner Abteilung waren alle sehr langsam, keiner machte etwas schneller als nötig, und selbst bei Ausfällen in der Produktion liessen sie sich nicht hetzen. Wer einmal gesehen hat, was ein Rohrbruch mit einem technischen Gas anrichten kann, versteht diese Langsamkeit, aus der Verantwortung erwächst. Sie machten eine viertel Stunde vor der Stechuhr Schluss und reinigten die Werkstatt, dass man vom Fussboden hätte essen können. Ich erinnere mich daran gern zurück. Viel lieber als an jene Abende, da man kostenlos essen konnte, um etwas Nettes zu schreiben.
Nun bin ich bekanntlich Angehöriger einer Schicht, die sich nicht einladen lassen muss und ihr Essen in der Regel selbst bezahlt, um nicht gegenüber Leuten verpflichtet zu sein, die sich dann als lästig herausstellen. Und so nötig, wie die Rohrbauer sind, so überflüssig sind meines Erachtens die Werber. Wie Sie, liebe Leser, an den Bildern sehen, beschreiben sie meinen morgendlichen Weg hinunter von meiner Wohnung etwas oberhalb von Gmund an den Tegernsee. Und wie Sie sehen: Es gibt dort keine Werbung. Keine Werbebotschaft. Nichts.
Sie begleiten mich, weil ich Ihnen etwas zeigen möchte. Ich gehe diesen Weg jeden Morgen, beginnend auf meiner Terrasse, wo Hummeln Blütenstaub erfolgreicher finden, als ich frisches Gebäck, über einen Weg entlang einer saftigen Wiese, dann vorbei an einer Kirche und Bauernhäusern mit blumenübersättigten Gärten, bis ich zur Strasse Richtung Österreich gelange. Diese Strasse überquere ich, und gelange zu meinem Bäcker. Es gab auf dem gesamten Weg keine Werbebotschaft. Nichts. Und ich habe absolut nichts vermisst.
Das geht hier so weit, dass selbst meine Bäckerei nur “Bäckerei Konditorei” heisst. Es gibt dort all die phantastischen Brezenzöpfe, die am See das Bildmaterial für meine Blogeinträge liefern, es finden sich Zwiebelbrote, die auch genau so heissen, und auch nur dann, wenn ich vor 12 Uhr komme. Von 12 bis 14 Uhr ist zu. Die Bäckerei ist weder das, was man heute für kundenfreundlich hält, noch mit einer Marke versehen. Oder einem Branding. Oder einem flotten Werbespruch. Es ist der Bäcker. Und ich musste für diesen Beitrag erst nachfragen, wie dieser Bäcker heisst. Nach über einem Jahr am Tegernsee kenne ich erst seit heute den Namen. Aber er tut nichts zur Sache. Er braucht keine Werbung.
Das geht den ganzen Weg zum See so weiter. Es gibt ein Schild beim Heimatmuseum, auf dem Heimatmuseum steht. Der Seglershop heisst Seglershop. Und die Pension erkennt man nur daran, dass “Fremdenzimmer besetzt” auf dem Balkon über dem traumhaft schönen Bauerngarten zu lesen ist. Angeblich sieht der heutige Mensch jeden Tag Tausende von werbenden Markenbotschaften, aber hier gibt es sie nicht. Und es gibt auch niemanden, der sie vermissen würde.
Halten wir einen Moment, da die Nusshörnchen in der Tüte rascheln, inne auf der Brücke, schauen wir auf den Mangfall und denken wir nach: Haben wir etwas vermisst? Gäbe es ausser den Werbern irgendjemanden, der über das Ende von Werbung traurig wäre? Würde jemand, der nicht von einer Diktatur profitiert, das Ende einer Diktatur beweinen? Und tut Werbung etwas, das man als gut bezeichnen kann? Und wieso kommen diese Typen überhaupt auf die Idee, öffentliche Strassen und Plätze als Ort für ihre schrägen Realitätskonstrukte, Zielgruppenansprache, und, sagen wir es deutlich, Lügen zu missbrauchen?
Natürlich werden Werber behaupten, sie wären schon immer da gewesen, auch Ludwig XIV. hätte Herrschaftspropaganda lügen lassen wie unsere Familienministerin, gute Werbung würde gute Produkte voranbringen, und gerade die Medien sollten doch froh sein, weil die Vertriebserlöse keinesfalls reichten, um die Verlage ausreichend zu bezahlen. Man würde ihnen entgegenhalten wollen, dass dem nicht ganz so ist, denn nichts währt ewig, und auch Werbung ist nicht geschenkt; vielmehr zahlt der Kunde über den Produktpreis die Werbung und damit eine Zeitung, die er ohne – ich hoffe, man nimmt mir das nicht übel – das parasitäre Zwischenwesen der Werber insgesamt natürlich billiger bekäme. Wie gesagt, man würde ihnen das entgegenhalten, aber hier sind keine Werber. Sehen Sie da hinten die Mutter mit ihrem Kind auf dem Steg?
Unten schwimmt ein Fischotter vorbei, und der Weg geht zu einem Strandbad, das auch keine Werbung hat, aber einen Blick über den See, der jene ikonographische Relevanz besitzt, die Werbung zu erzeugen versucht. Stellen Sie sich bitte dazu einen Werber vor, einen jener gschaftlhuberischen Fachwortausscheider, seine Kraftpunktpräsentation vortragend, sowie das Schönste aller Werbeplakate, und zwar bitte in dieser Erhabenheit der Natur:
Nicht wirklich das, was man einen gelungenen Ausblick nennen würde. Und damit kommen wir, nach diesem Weg vom Berg über dem Mangfall hinunter zum See, zu dem Punkt, der mir wichtig zu sein scheint: Dass es dieses Zeug hier nicht gibt, hat sehr viel mit jenen zu tun, die hier wohnen. Je besser die Gesellschaft, je höher das Einkommen, je grösser die Grundstücke und je bewundernswerter die Natur, desto weniger Werbung. Es gibt einen Kausalzusammenhang zwischen gepflegten Wohnlagen und der Freiheit von Werbung. Das Prinzip der Werbung steht diametral dem Selbstverständnis einer Klasse gegenüber, die nicht mehr was werden muss, die keine Drängelei benötigt und kein Geprotze, keine Erfindung von Realitäten und Zielgruppen, kein scheinbar kostenloses Geschenk und 10% mehr Inhalt, sondern eher hohe Hecken, Ruhe und Abgeschiedenheit. Nicht das Prinzip von “Unten”, sondern das Prinzip von Werbung, mit allen Mitteln, Lügen und Anmassungen nach “Oben” kommen zu wollen, ist die Negation dessen, was oben ist. Irgendwie schaffen es Orte reicher Menschen dann, die Werbung auszuschliessen, oder in Form eines schmiedeisernen Schildes sozialverträglich zu gestalten.
Anders gesagt: Der Weg von Unten nach Oben führt über die Verdrängung von Werbung. Sobald man auf dem Weg zum Bäcker keine Werbung mehr sieht, ist man oben. Werbung definiert das Unten. So einfach ist das eigentlich.