Ein Buch ist ein Sack voller Samenkörner
Andre Gide
Der Aufstieg meiner Klasse zu dem, was sie heute ist – die ökonomisch bestimmende und politisch einflussreiche “bessere Gesellschaft” – ist in Deutschland ein rund 200 Jahre langer Kampf, zuerst um Aufstieg und Gleichberechtigung, und dann, unter Akzeptanz einer theoretischen Gleichheit aller, um den Machterhalt. Auch diese gesättigte Elite musste sich einst gegen Verbote und Drangsale von Kirche, Adel und Obrigkeit wehren, und dieser Kampf lässt sich auch anhand des Aufstiegs der Belesenheit erzählen. Das Recht, sich frei zu entfalten, geht einher mit dem Recht, sich anzulesen, was man will. Genau das versuchten die feudalen Strukturen zu verhindern, die gerne weiterhin alles und jeden in ihrer Abhängigkeit gesehen hätten.
Der Feudalismus, die Herrschaft der Adligen versuchte es mit Zensur und Buchverboten, mit Schikanen und Unterdrückung, mit Bücherverbrennung und Aufknüpfen von Autoren, oder, wenn das nicht ging, Erhebung in den Adelsstand und Totmästung ihrer Ideale, siehe Göthe. Freier Bürgerwille war den Adligen suspekt; man hätte die Menschen gern weiter in Hörigkeit gehalten, ohne Recht auf Grundbesitz, abhängig vom Wohlwollen der Herren, an deren Scholle sie gekettet waren, ohne Chance auf Aufstieg oder individuelle Freiheit. Dieser Kampf zwischen Autorität und ihrem Konzept der Hörigkeit und dem bürgerlichen Konzept der Freiheit, zwischen ideologisch bedingter Vorgabe von Inhalten und dem Recht zu lesen, was man will – der dauerte ziemlich lange. Für mich in Bayern bis zu meinem 16. Lebensjahr.
Damals – Bayern war so schwarz wie ein frischer Kuhfladen und in etwa so demokratisch wie eine absolutistische Fürstabtei – gab es in meinem Gymnasium nicht nur etliche Ostfrontfreunde unter den Lehrern, sondern auch eine AG Literatur, und der veranstaltende Lehrer sah sich mit dem Vorschlag konfrontiert, ein Buch von Andre Gide, namentlich “Die Verliese des Vatikans” zu lesen. Der Direktor der Schule untersagte es. Gide sei schwul gewesen, das Buch sei atheistisch, und es würde nur die Entwicklung jener Schüler stören, die sich in der AG Literatur drängelten, um den ansonsten wohlbehüteten Töchtern der Chefärzte und Apotheker bei Tee und Katzenzungen den Hof zu machen. Also lasen wir Gide verbotenerweise heimlich, ohne dass es den Versuchen der Annäherung an jene besseren Töchter Abbruch getan hätte. Gegen den Anspruch des Direktors, uns nur das zu gestatten, was er unter seinem Herrschaftsbereich zugelassen hat, setzten wir uns durch, und kamen uns sehr libertinär und rebellisch vor. (Übrigens markiert Microsoft Word auch das Wort “libertinär” als falsch geschrieben, man ziehe selbst Schlüsse)
25 Jahre später ist auch Bayern nicht mehr so zurückgeblieben. Sorgen wegen Alkohol und Zigaretten haben das kleine Übel nicht genehmer Weltliteratur längst von der Agenda der Schulleiter verdrängt. Die Pornographie kommt aus dem Netz, die nackte Nachbarstochter findet man beim sozialen Netzwerk, und sollte jemand, wie bei Gide beschrieben, grundlos, nur der Bosheit willen, aus dem Zug geworfen werden, kann man sich darauf verlassen, die Bilder der Aktion bald per MMS auf das Handy zu bekommen. Man sollte meinen, dass in Zeiten wie den Unseren jede feudalistische Bemühung andere Sorgen hat, und dass gerade Buchhändler wie das Versandhaus Amazon sich alle Mühe geben sollten, dagegen zu halten, und den Menschen andere Gesellschaftsaktivitäten als Spannerei, Gewalt und unerfreuliche Ausprägungen des Internets zu vermitteln. Schliesslich geht es um jene Kultur, von der die Buchhändler nur leben, weil sie zusammen mit dem gehobenen Bürgertum entstanden und aufgestiegen sind.
Ist aber nicht so. Im Gegenteil. Der Buchversender Amazon denkt anders und macht eine Rolle 200 Jahre zurück. Die Denke ist totalitär und, sagen wir es mit einem klaren Wort, geisteskrank, die Methoden jedoch hochmodern, effektiver als jede Bücherverbrennung. Denn Amazon vertreibt das “eBook”, die elektronische Lesemaschine Kindle; eine Art kleiner Computer, für den man sich bei Amazon Buchinhalte, neudeutsch “Content” gegen Geld beschaffen kann. Ich schreibe absichtlich nicht “kaufen”, denn tatsächlich besitzt man damit keinen Gegenstand, wie man ihn beim Buch besitzt, verschenken und vererben kann: Was man bei Amazon erwirbt, ist nur das Recht, einen Text zu lesen. Und dieses Recht kann jederzeit ohne Warnung wieder entzogen werden. Genau das ist jetzt auch passiert, denn aufgrund von Rechtsunsicherheiten hat Amazon Texte von George Orwell von den “eBooks” seiner Kunden entfernen lassen. Auf elektronischem Weg, ohne Frage, ob es dem Kunden recht ist. Einfach so. Lapidare Begündung: “We recently discovered a problem with a Kindle book that you have purchased“. Es handelte sich dabei ausgerechnet um Orwells Dystopie 1984.
Man bleibt da ein wenig fassunglos zurück. Einerseits, weil es also dem Buchversender möglich ist, mit einem Knopfdruck die Bibliothek zu rupfen, zu verändern, Werke je nach Belieben verschwinden zu lassen oder zu verändern. Kein dreckiger Diktator, Staatsverbrecher und reaktionärer Politiker von Peking über Pjönjang bis Rom, dem so etwas nicht gefallen würde: Gäbe es keine Bibliotheken mehr, sondern nur noch Kindles, könnte man dem Buchhändler einfach juristisch Druck machen: Ein Knopfdruck, und schon wäre jeses missliebige Werk weg. Bücherverbrennungen sich ein Witz gegen das, was Amazon zu tun in der Lage ist. Kindle ist das effektivste Werkzeug zur Inhaltekontrolle, das man sich vorstellen kann, und mit Amazon gibt es auch einen Konzern, der offensichtlich bereit ist, diese Macht einzusetzen, wenn es den Firmenzielen dient.
Die Nutzer dagegen wird es vermutlich auch nicht trösten, wenn ich ihnen erkläre, was sie da gerade mit ihren teuren “Gadgets” erleben: Amazon führt damit vorbürgerliche Verhältnisse wieder ein. Amazon kehrt zurück zum Feudalismus und zur Hörigkeit. Wer ein Kindle besitzt, ist nicht nur abhängig von Amazon. Wie ein Höriger des Mittelalters hat er allenfalls bewegliche Habe: Den Kindle; so, wie sein Vorfahr eine Sense, einen Spaten oder einen Schleifstein besitzen konnte. Die Inhalte, die Texte jedoch werden ihm nur gegen Abgaben zur Verfügung gestellt, wie das Land den abhängigen Bauern nur geliehen wurde. Es ist das zutiefst mittelalterliche Konzept der “Lehen”, der Verleihung von Gütern für Gegenleistung und Unterwerfung, die jederzeit und ohne Angabe von Gründen widerrufen werden kann. Wollte der Vorfahr dem Adligen entlaufen, hatte er gute Chancen. Der Kindlebesitzer dagegen sieht sich mit einem “Digital Rights Management” an den Händler gekettet, der Einblick in das Tun und Treiben hat, und bei Belieben –
nun, man wird sehen, was Amazon sonst noch alles können wird, und was an Möglichkeiten in diesen flachen Geräten steckt. Bischof Bernward von Hildesheim setzte als Exlibris in seine Bücher einen Spruch, den ich auch ab und an hineinschreibe: “Anathema diaboli sit, quisquis mihi dempserit” – Der Fluch des Teufel treffe ihn, wer auch immer mich entwendet. Er ist nicht allzu wirksam, denn all die vielen Frauen, die bisher die Rückgabe meiner Bücher vergessen haben, sind noch gesund und allenfalls geschieden – Amazon jedoch hat das Anathem eingeschrieben, den Fluch, der wirklich wirkt. Sie verabschieden sich damit aus dem Wertekanon der bürgerlichen Gesellschaft, und führen sich selbst als neue Gewaltherrscher ein, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, autokratisch über Bildung und Unwissen entscheiden, und das mit eben jener Beiläufigkeit tun, die man so gern mit der “Banalität des Bösen” erklärt. Nun – ich rufe natürlich nicht zum Boykott von Amazon auf. Nur weil ich so etwas schlecht finde, muss es noch lange nicht schlecht sein, wie ein Blick in die Geschichte zeigt: Es gab auch Bürger, die mit grosser Begeisterung ins stalinistische Russland oder ins faschistische Spanien gereist sind, und auch Pol Pot geniesst unter seinen Anhängern ein viel besseres Ansehen, als im bürgerlich-dekadenten Westen. Es ist einfach eine andere Kultur. Amazon macht mit dem Kindle ein Angebot dieser neuen Kultur. Jeder muss selbst wissen, ob er das nachfragen will.
Begleitmusik: Unterwerfung hat natürlich auch Tradition: 1721 versucht sich auch ein gewisser Johann Sebastian Bach bei Markgraf Christian Ludwig von Brandenburg anzudienen. Das 3. Brandenburgische Konzert BWV 1048 findet sich neben einigen anderen, eher heiteren und weltzugewandten Stücken auf der CD “Concerts avec plusieurs instruments II” des Ensembles Cafe Zimmermann – benannt nach der Lokalität, in der sich Bach später von seinem kirchenmusikalischen Untertanendasein erholte, und dem Leipziger Bürgertum eben jene geistvolle Unterhaltung schenkte, die man uns fast drei Jahrhunderte später im Digitalen allenfalls zu vermieten bereit ist; uns, die wir heute von unfreundlicheren Labels als dem Hersteller dieser CD mehr als Inhaltediebe und nicht als Kunden gesehen werden.