Seit Wochen versuche ich nun schon, an dieser Stelle einen harmlosen Beitrag über das Miesbacher Fleckvieh zu schreiben. Etwas kommt immer dazwischen. Manchmal aktuelle Nachrichten, manchmal Erlebnisse am Wegesrand, ein Bürgerfest oder eine Ratscherei beim Bäcker. Die besten Themen aber verdanke ich den Kommentaren auf diesem Blog, und wie es nun mal so ist: Oft sind die dümmsten Kommentare die besten Anregungen. Wie etwa der hier, von einem gewissen “Rudyguy” in Zusammenhang mit meinem Unbehagen über das Löschen digitaler Buchsurrogate durch Amazon am 19. Juli 2009, 20:42 Uhr niederge- na ja, seien wir freundlich – schrieben:
Alphonso fürchtet sich wie alle, die einer geistig absterbenden Gemeinde angehören (hier eine so genannte unscharf beschriebene “bessre Gesellschaft”) vor dem Neuen, Unbekannten. Er sieht und schmeckt nicht die Lebensqualitäten die uns Bits & Bytes geben, folglich kann er diese auch nicht genießen. Er verabscheut das Nicht-Körperliche das Berge bewegen kann denn er hat sich auf seine fünf Sinne reduziert und in seinen Körper eingesperrt. Kostengünstige Therapieempfehlung: iPhone, das mit seinen vielen Apps zeigt zu welchen schier unglaublich zu nennenden alltagstauglichen Ideenleistungen das “einfache Volk” doch fähig ist.
Nachdem ich damit rechnen muss, dass auch Angehörige meiner Klasse diesen Text lesen, möchte ich kurz übersetzen: Rudyguy vertritt die Meinung, dass eben jene Klasse, das gehobene Bildungsbürgertum jenseits der materiellen Sorgen, im Aussterben begriffen ist, und erkennt die Alternative in der Wirkung vollkommen neuer Internetanwendungen und der daraus entstehenden Virtualität, die sich der uns so wichtigen materiellen Existenz entzieht. Darin erfährt er eine Art Erweiterung des Seins, die meine kranke Klasse vermutlich hinwegfegen soll und rät mir, mich vermittels eines Mobiltelephons seiner neuen Elite der digitalen Zukunft anzuschliessen.
Nun, er hat nicht ganz Unrecht: Hier am Tegernsee, wo eben jenes Bild des Sonnenuntergangs aufgenommen wurde, rennt tatsächlich niemand verstöpselt und verkabelt durch die Gegend, wie das etwa in Berlin üblich ist. Man braucht nichts an den Ohren, denn das Waldesrauschen ist wie Musik, und hier auch nicht das alte Lied von Euro, den man mal haben soll. Man muss nicht erreichbar sein, denn man hat die Pflichten an jene ausgelagert, die nicht hier sind. Man teilt das auch niemandem mit, denn erstens geht es keinen was an, und zweitens beschäftigt die FAZ eigens für diese Region einen Korrespondenten, der die Aufgabe des Chronisten übernimmt. Das Ablichten des Frühstücks erregt nur Neid, und so gesehen: Man braucht das Digitale hier nicht. Es geht prima ohne. Und so gerne ich hier schreibe: Ich lag davor auch zwei Stunden auf meinem grüngestreiften Liegestuhl in der Sonne, und habe die Lebenserinnerungen von George L. Mosse gelesen, “Aus grossem Hause”. Und mich so, Rudy “Ey Komma’s sind lame und nur für Analogmenschen” guy zufolge, zwei Stunden näher an den Abgrund manövriert, in den meine Klasse stürzen wird, um Platz zu machen für den neuen, verkabelten Menschen, der alle seine 123.964 Kontakte auf dem iPhone und seine Harry-Potter-Sammlung auf dem Kindle stets mit sich trägt, wenn er unsere Stadtpaläste in Lofts umbaut, in denen ungewaschene Berufsjugendliche Bacheloretten auf das Bewerbungssofa schmeissen – soweit die Theorie.
Die Praxis ist eine andere. Das Digitale wird nie Elite sein. Nie. Unter keinen Umständen. Zum einem, weil all die Digitalhüpfer kein Geld haben. Ich bin auch nicht gerade glücklich über die grosse Umverteilung der letzten Jahre, aber es gibt auch noch andere Gründe ausser dem Empfinden der Natur, warum unverkabelte Menschen am Tegernsee für 3 Quadratmeter Wohnfläche ihrer Villen so viel ausgeben, wie verkabelte Kreative und Appschreiber in einem Jahr verdienen. Gründe, die den Verkabelten nicht gefallen werden. In Bayern gibt es drei Sprüche, die man sich dazu merken sollte: 1. Wer ko, der ko. 2. Wer nix daheirat und nix dairbt, bleibt arm, als wiara schtiabt. Und 3. Wer zoiht, schafft oh. Wir können, wir erben, wir zahlen, wir schaffen an. Das ist Elite. Der Rest ist in Berlin und betet, dass der Geldautomat die Karte nach der Handyrechnung noch ausspuckt.
Aber selbst, wenn es nicht so wäre: Durch alle Zeiten hindurch hat sich Elite durch Besitz definiert, der nicht allen zugänglich war. Das einzige Regime, das nicht so eingestellt war, war die Diktatur der Roten Khmer in Kambodscha, wo sich Opfer und Täter allein durch die Frage unterschieden, wer Gewalt anwandte oder erfahren musste. Alle anderen Klassengesellschaften hatten und haben das Bestreben an ihrer Spitze, etwas zu besitzen, das idealerweise nicht reduplizierbar ist. Gottesgnadentum und Papstkrone im Extremfall, oder am anderen Ende, als Apotheker in der kleinen, dummen Stadt an der Donau, eine Einladung im Smoking zum Standortball. Das Internet ist – glücklicherweise – das genaue Gegenteil, es ist ein Raum, den man immer gleichberechtigt betreten und darin verweilen kann, man kann alles tun und kopieren, jeder Besitz des Internets ist immer verfügbar, vorhanden, nutzbar, allgemeiner Besitz. Wenn ich diesen Text einstelle, findet man in den Nutzungsbedingungen von FAZ.net entsetzlich viele Regeln, an die sich de facto niemand hält. Jeder kann sich den Text ausdrucken, als Dokument speichern, als Anregung verwenden, was auch immer. Es geht in diesem Blog um die Elite, aber das Blog selbst ist, wie alles, was im Netz existiert, absolut nicht elitär.
Und deshalb wird es auch in meinen Kreisen mit erheblicher Geringschätzung betrachtet. Sobald etwas jeder haben kann – im Gegensatz zu einem FAZ-Abo – wird es in den Augen der Elite eher wertlos. Das Bestreben der Eliten geht nach Einzigartigkeit, nach Abgrenzung, weg von der Gemeinmachung. Man tut das nicht einmal mit Absicht, man lernt das als Kind, man bekommt Aversionen anerzogen, man funktioniert so. Man kann perfekt und stimmig argumentieren, warum die Eintrittkarte für die Staatsoper so viel wie ein sechs Monate Essen für ein Kind von Hartz-IV-Empfängern kosten darf. Warum eine technisch komplett veraltete Breguet ein Tausendfaches der billigen, aber fortschrittlichen Plastikuhren aus Fernost kostet. Der Kern aber ist: Man leistet es sich, weil man kann. Und andere es nicht können. Die haben dann immer noch den Stream für ihr iPhone, das MP3 aus dem Internet und die Uhrzeit unten in der Symbolleiste.
Das Immer, das Jederzeit, das Überall und das Mit Allen sind für Eliten das genaue Gegenteil des Wünschenswerten. Es ist nicht übel, das auch zu haben, wenn man es braucht. Auch der Papst isst Brot. Auch ich blogge. Aber es ist nicht das Ziel und nicht die Aufgabe dieser Klassen. Klassen entstehen dadurch, dass man genau jene Dinge, Eigenschaften und Vorteile immer, jederzeit und überall hat, die alle anderen nie und an keinem Ort je haben werden. Ein paar hundert Euro für ein iPhone, mit dem man Twitter befüllen kann wie alle anderen auch, ein eBook voller runtergeladener Bücher, das alles generiert keine Elite. Allenfalls eine gehörige Portion Grössenwahn bei Leuten, die Döner für 99 Cent mit Essen verwechseln. Ein Jahr später sind es dann nicht mehr die alten Apps, da müssen dann brandneue Apps her, und ein neues iPhone auch. Mein Mobiltelephon hat nun schon seit vier Tagen keinen Strom mehr, weil ich das Ladegerät vergessen habe, aber meine älteste Silberkanne ist ein Unikat von 1817 und funktioniert problemlos.
Um es einfach zu sagen: Es kann keine digital begründete Elite geben. Die Elite kann sich das Digitale aneignen, oder anderweitig nutzbar machen. Da draussen sind Tausende, deren iPhones geladen sind, die sich mit Computer besser auskennen. Und deren Wissen man im Zweifelsfall billig kaufen könnte. Es sind so viele. Es sind so gut wie alle. Weil es allen offen steht, weil es jeder kann, weil es banal ist. Aber wenn jede Klasse den gleichen Zugang zum Digitalen hat, entscheidet am Ende allein das Analoge, und das Digitale wird zu dem, was man früher vielleicht als “ordinär” oder “gewöhnlich” bezeichnet hätte. Deshalb lese ich auf meinem Liegestuhl George Mosse, während sich Rudyguy die neuesten Apps für das iPhone beschafft. Vielleicht ändert sich das an dem Tag, da man in Menschen als ultimatives Analogprestige Computerschnittstellen einbaut und Daten aufpielt. Es gibt welche, die finden die Idee toll. Mit so einer Schnittstelle haben sie dann wirklich etwas, das sonst keiner hat. Und, in aller Bescheidenheit, auch nicht haben möchte.
Dabei mag ich das Digitale trotzdem. Es ist für mich wie diese Wolken auf dem Deckengemälde der Anastasiakapelle in Benediktbeuren. Ich ruhe darauf sehr angenehm. Andere arbeiten sich daran verbissen einen ab. Die heilige Anastasia ist übrigens, das sei den Digitalen hier noch auf den Weg gegeben, die Schutzheilige der Geisteskranken. Ich werde das nächste Mal eine analoge Kerze für sie anzünden.