Juchheidi, Juchheida, Schnaps ist gut für Cholera
(trad.)
Es gehört zu den eisernen Regeln der besseren Gesellschaft, nicht in der Öffentlichkeit oder gar stehend zu essen, aus Flaschen zu trinken oder, Gott behüte, “vom Pabbierl”, also von Einweggeschirr zu essen. Wie jede eiserne Regel von besserbürgerlicher Qualität kennt diese Ausnahme auch Einschränkungen durch Notlagen: Bei der Bergwanderung hat niemand das Rosenthal dabei, bei den Parties des Nachwuchses möchte man keine guten Dinge verlieren, und am Wochenmarkt – nun, am Wochenmarkt kauft man ein. Steht vor all den Erzeugnissen der Region und den importierten Delikatessen, kauft Pfifferlinge und Trüffelravioli, Hausgeräuchertes und frisch Gebackenes, bekommt dabei natürlich Hunger, und nicht jeder hat das Glück, in der Altstadt zu wohnen und sofort danach essen zu können.
Diese weniger Glücklichen nun haben an zwei Orten des Wochenmarkts die Möglichkeit, Würste, Brezen und Bier zu kaufen, von Papptellern zu essen und aus Flaschen zu trinken, ohne dass man sie deshalb diskriminieren würde. Nur hier, zwischen 11 und 13 Uhr, wird die eiserne Regel ausgesetzt. Weil, nun, genau genommen, weil es schon immer so war und man es nicht anders kennt. Nur eine halbe Stunde später gibt es was hinter die Löffel, sollte der Nachwuchs es wagen, zu Tisch aus der Flasche zu saufen, der Hoagl, der meint, man wäre auf der Brennsubbn daheagschwumma. Davor jedoch stehen Mittelhoch und Ganzhoch – man muss sich den Wochenmarkt schon leisten können – zusammen am Tisch und reden.
Nachdem man die gschlamperten Verhältnisse des Landesvaters und seines lokalen Stellvertreters schon durch hat, und der globale Konzern der dummen, kleinen Stadt den schwäbischen globalen Konzern gerade frisst, ist das neue Thema am scharfen Senf nun die Pandemie der Schweinegrippe. Grob gesagt gibt es dazu folgende Meinung: Die Schweinegrippe schickt sich nicht. Wenngleich die Marktfrauen der Überzeugung sind, dass wir robust genug sind, das zu überleben, ist es natürlich schon peinlich, eine Krankheit der Schweine zu haben.
Ausserdem kennen wir uns mit Seuchen aus. Bessere Familien haben eine lange Erinnerung, und bei uns etwa, in meinem Haus, wütete 1872 der Lungentyphus. Damals hatte man das erste Speicherstockwerk zu günstigem Wohnraum ausgebaut, und die dort mietende Familie verlor drei von vier Töchtern und die Mutter. In den besseren Stockwerken gab es keine Probleme, aber es wurde teuer: Der oberste Stock musste für die dezimierte Familie erneut umgebaut werden, Türen wurden zugemauert, und aus einer Wohnung wurden zwei – bis dann meine Eltern die Umbauten rückgängig machten, um Platz zu haben für einen Nachwuchs, dem sie bald die in ihren Augen schäbige Altstadt nicht mehr zumuten wollten, und in die umwaldete Vorstadt zogen, wo der Nachwuchs beinahe an Heuschnupfen krepiert wäre, und bei der ersten Gelegenheit zurück in die Altstadt zog, sehr zur Verärgerung seiner Eltern, die ihm doch extra eine Einliegerwohnung – aber das ist eine andere Geschichte.
Beim Wurststand jedoch besprachen wir nicht nur die möglichen Auswirkungen auf das Vermietungsgeschäft durch zu erwartende Mietermortalität, sondern auch die Frage, welche Region wohl besonders leiden würde. Mich betrachtet man da mit einem gewissen Argwohn, arbeite ich doch für eine Zeitung aus Frankfurt. Und tatsächlich: Wenn die Schweinegrippe in Deutschland ihr Hauptquartier aufschlägt, dann in jener nachkriegszeitlichen Stadtsimulation, die der hier vorliegenden Publikation den Namen gab. Offen gesagt habe ich schon vorgeschlagen, die FAZ solle endlich Nägel mit Köpfen machen und an den Luganer See umziehen: Dort sind die zahlkräftigsten Abonnenten, die besten Lobbyisten und auch viele Politiker mit Koffern. Das Risiko, durch die Pandemie von der Erde vertilgt zu werden, ist in der guten Luft kleiner, zudem wäre es von meinem Berichtsschwerpunkt Tegernsee aus näher.
Frankfurt jedoch: Der Flughafen, wo Hunderttausende aus den Seuchenlagern der BallaBallearen ankommen! Die Geschäftsreisenden! Die vielfliegenden Banker! Das ausladende Prostitutionsgeschäft! Die vielen Messen! Stets war die Kombination von horizontaler Geschäftigkeit und hoher Fluktuation, von Vielreisenden und zu viel menschlicher Nähe wie in Grossraumbüros und auf Ausstellungen der beste Nährboden für Seuchen. In Frankfurt kommt alles wie in keiner anderen Stadt Deutschlands zusammen. Noch spricht man von Impfung – aber in Frankfurt sollte man vielleicht an Leichensäcke denken, sagt mir auf dem Wochenmarkt Frau P., und deren Mann ist stadtbekannter Sportarzt und muss es wissen. Und während über Wiener Würsten noch debattiert wird, ob es nicht vielleicht auch Preussen mit deren dreckigen Zuständen in Berlin erwischt, gehe ich heim.
Recht haben sie. Schweinegrippe ist nichts für unsereins. Die Vorstellung, daran zu krepieren, nur weil ein paar Besoffene auf den spanischen Inseln nicht aufgepasst haben und die Krankheit hier einschleppen, ist wahrlich nicht angenehm. Tuberkulose muss in Davos und St. Moritz noch reichlich schick gewesen sein, Schweingrippe dagegen würde man angesichts der Überbringer aus den Partyinseln irgendwo zwischen Pocken und Aussatz einsortieren. Als ich im April in England war, kamen dort Touristen aus Spanien mit blauen Papiermasken an. Blaue Papiermasken gehen gar nicht. Man muss, so meine Überlegung, einfach an einen Ort, der so unfrankfurterisch wie möglich ist: Keine Ballermann-Touristen, keine Grossraumbüros, keine schlechte Luft und keine Flughäfen, statt dessen ältere Langzeitgäste ohne jede Lust auf Damen aus Osteuropa, üppige Suiten und Frühstücksräume. Kurz, der ödeste Ort der Welt in berglicher Abgeschiedenheit nach Berlin Prenzlauer Berg, und das ist: Meran.
Meran ist voller alter Menschen, die noch Distanz zu wahren wissen. Es gibt keinen Flughafen, nur recht schlechte Strassen. Meran ist zu teuer für Billigtouristen und Eimersäufer, es gibt keinen Hafen und dafür viele schwere Pässe. Es hat gute Luft und weitläufige Parks, einen Kurbetrieb und obendrein weder Schweine noch Banker, und Wildschweine nur in verwursteter Form. Kurz, Meran ist jener Ort, wo man in Zeiten wie diesen sein sollte. Ich rief also meine Frankfurter Reisebegleiterin an, teilte ihr mit, dass ich ihr Ableben an Schweinegrippe – allein schon das Wort! – nicht gut fände, und bot ihr an, mich nach Meran zu begleiten, wo wir an der Kurpromenade sitzen, Tee trinken und in deutschen Zeitungen lesen könnten, wann es vorbei ist.
Das hat bei uns übrigens Tradition, denn in jenen Tagen der Cholera war es, da meine Familie plötzlich die Vorzüge der Alpen entdeckte. Seit Jahrtausenden gehen die einen an Seuchen zugrunde und die anderen von den Seuchen weg, und wer es tun könnte, würde es genau so machen. Wir verdanken der Seuchenflucht der besseren Gesellschaft immerhin Weltliteratur wie das Decamerone und den Husar auf dem Dach, und, sehen wir den Tatsachen in das schwarz unterlaufene Auge, vor dem Tod sind zwar alle gleich, aber Gleichheit war nie das Thema dieses Blogs, ganz im Gegenteil.
Insofern ist es nur konsequent, wenn ich jetzt die Silberkanne verstaue, die Hemden in den Koffer schlichte, die Handschuhe aus Peccaryleder für den Jaufenpass einfette, und mich vorher über die heftigen Tarife gewisser Telkos informiere, damit mich das Versenden der Berichte aus Italien nicht ruiniert. Sollte ich doch reinfallen, besuchen wir auf dem Heimweg auch die Konditoren neben den Bankhäusern in Graubünden und lachen hämisch, wenn die EU-Grenzschergen im dekorativen Koffer von Louis Vuitton nur gebrauchte Unterwäsche finden. Sie, werte Leser, werden in den kommenden Tagen von der Tagespresse schlimme Dinge hören, die Pandemie wird in aller Munde sein, und alle werden Ihnen erklären, wie man nun zugrunde geht; wir jedoch stehen für Nutzwert und werden erzählen, wie man auch in diesen Zeiten blendend lebt, da es nicht mehr nur um das richtige Benehmen und die angemessene Haltung bei Tisch, sondern auch um den richtigen Ort und das Überleben geht.
Begleitmusik: Ich finde ja, dass gerade barocke Kirchenmusik immer einen gewissen morbiden Charme hat, die Töne stickige Luft nachformen und der Pesthauch stets gegenwärtig ist, diese Lust am Tod und die Kunst der Vergehens. Neben der freudejubelnden Missa Salisburgensis hat Heinrich Ignaz Franz von Biber mit der Missa Bruxellensis um 1700 auch ein dunkleres Meisterwerk geschrieben, das in seinen schnellen Passagen wie eine Eiterbeule aufplatzt und in sich den bedächtigen Passagen wie ein Leichenzug dahinschleppt. Wir werden natürlich das andere Werk mitnehmen, um damit über die Pässe ins ungetrübte Licht zu fliegen, aber wenn Sie partout im gelblichen Gifthauch von Frankfurt bleiben wollen: Die Missa Bruxellensis in der Einspielung von Jordi Savall ist die adäquate Antwort auf Kommendes.