Auf der Brennerhöhe blieb ich einen Tag in dem hübschen Brennerbad und machte von da Sonntag, 24. August, eine sehr schöne Bergtour auf das Schlüsseljoch.
Ernst Haeckel in einem Brief an seine Frau Agnes, 1902
Es ist ja nicht so, dass man sich am Tegernsee nicht rührend um uns bemüht hätte. Da war das sagenhaft schöne Wetter. Die silbrige Luft. All die netten Menschen wie Thomas. Thomas ist KFZ-Mechaniker und kam nach ein paar Stunden über dem Motorraum des Dienstroadsters zum Schluss, dass ein Pleuellagerschaden vorliegt. Und das war noch nicht mal die Ursache für das Liegenbleiben, das uns in schönster Landschaft auf den ersten Höhenzügen der Holledau ereilte. Ginge es nach Thomas, würden wir hier bleiben. Und ginge es nach den Neuerungen bei unserem Hofkonditor Wagner, würden wir auch hier bleiben und ein Rennen veranstalten, wer uns schneller dahinrafft: Die ordinäre Schweinegrippe oder, ganz klar unser Favorit, der edle und marzipansüsse Zuckerschock.
Damit jedoch wäre auch der besten Tradition des alten Europas Ehre getan, auf deren Spuren wir nun zu wandeln gedenken, denn schon früh floh man die natürlichen Krankheiten, um Platz zu schaffen für selbst verschuldete Schmerzen und Leiden. Nicht umsonst sind in Kurorten die besten Konditoreien, nicht ohne Grund stehen dort Spielkasinos und Gastwirtschaften üppiger Ausprägung. Der Höhepunkt dieser Gleichzeitigkeit von Körperpflege und Laster (Heutige Version: Darstellung 1 (wahr), Darstellung 2 (glatt gelogen)) war fraglos die Belle Epoque um den Wechsel zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, da man an den Kurorten Grandhotels errichtete, die einem gehobenen Publikum gleichermassen Gesundheit und Luxus aller Art versprachen.
An einem der damals berühmtesten dieser Bäder kommt man auf dem Weg vom Tegernsee nach Meran vorbei. Es ist Brennerbad, jener heute so unscheinbare Ort hinter der Grenze zwischen Österreich und Italien. Die Region war schon in römischer Zeit für ihre warmen Heilquellen bekannt, und avancierte bis ins frühe 20. Jahrhundert zu einem der beliebtesten Kurorte Europas: Exklusiv, mondän, mit einer Eisenbahn und einem luxuriösen Palasthotel versehen, das die modernste Technik und die beste Ausstattung auf die Passhöhe brachte. So sieht das Grandhotel Brennerbad heute aus:
Die feine Gesellschaft feierte hier nur 12 Jahre, von 1902 bis 1914. Dann kam der erste Weltkrieg, darauf die Annexion Südtirols durch Italien, und schliesslich 1922 ein Kaminbrand, der den gesamten Komplex mit seinen Türmchen, Dächern, Ballsälen und Kureinrichtungen bis auf die Grundmauern niederlegte. Was heute davon übrig ist, ist marginal, oder schlimmer, neu errichtet und nur ein Schatten einstiger Grösse. Die Epoche der Grandhotels endete meist mit dem Krieg, den man in Unkenntnis der weiteren Geschichte den “Grossen Krieg” nannte; aber während in Ischl, Bad Gastein und im Hochpustertal noch die Reste alter Herrlichkeit erhalten sind, ist Brennerbad ein Durchgangsort, ein Nichtort zwischen Italien und Österreich, geprägt von Autonbahn und Zügen, deren Reisende keinen Grund haben, hier anzuhalten.
Immerhin blieb diesem Grandhotel das Schicksal erspart, das so viele andere Häuser jener Zeit ereilt, deren Bewirtschaftung sich nicht mehr lohnte und deren Besucher, nun nicht mehr durch Heilquellen, sondern durch Tabletten und Morphin kuriert, auf die Seychellen oder nach Südfrankreich weiterzogen: Umgebaut zu Eigentumswohnungen, entkernt und in Shopping Malls verwandelt, oder Besitzern preisgegeben, die sie langsam vor die Hunde gehen lassen in der Hoffnung, einen Blöden zu finden, der auf dem grauen Kapitalmarkt dafür Geld sammelt, oder gar einen russischen Oligarchen. Grandhotels in den Bergen sind heute Spekulationsobjekte einer Zeit, der es an Grösse und Eleganz mangelt, und die es aber versteht, auch heute wieder Investoren zu ködern, die damit genau so eingehen und betrogen werden, wie ihre Vorgänger zu des Kaisers Zeiten. Von Brennerbad jedoch bleibt nur der Mythos, die Erinnerung, die allem innewohnt, was unwiederbringlich verschwunden ist.
Hätte jenes Feuer 1922 den Kamin nicht verlassen und Stuckdecken, Kronleuchter und Bleigläser verzehrt, wäre diese kleine, feine Welt nicht ausgeglüht in sich zusammengestürzt, hätte man in sie vielleicht das hineingezwungen, was man heute, 100 Jahre später, am Brenner besichtigen kann: Ein Palast, der nicht mehr dem Verweilen und Auskurieren, dem Disput und der Literatur geweiht ist, sondern dem modernen Touristen, der gern viel ausgibt, wenn es nur billig erscheint. Mitten am Brenner steht dieses Kaufhaus, mit Parkdecks und Restaurants wie überall auf der Welt, austauschbar wie schon die Schlossarchitektur der Belle Epoque. Es ist aber nicht dem Müssiggang geweiht, sondern allein errichtet und geplant, um dem Besucher in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld abzunehmen. Es gibt keinen Grund, hier lang zu bleiben, man ist ohnehin unterwegs nach Süden oder Norden, niemand würde hier übernachten, und um den Pass herum zerfallen überall die alten Gasthöfe.
Dieser Huldigung an den globalisierten Kapitalismus also mit seinen Prozenten und Sales und Outlets also hat das Feuer von 1922 die Chance auf eine noble Hülle weggefressen, die es sonst vermutlich okkupiert hätte, um jenen Anschein von Luxus, Gediegenheit und Geschichte zu erhalten, der kaum unangemessener sein könnte. Der neuerliche Scheinluxus der bürgerlichen Gesellschaft mit seinen in Vietnam zusammengeklebten Schuhen, den in der Türkei genähten Kleidern und all den Billigsegnungen des fernen Ostens lechzt nach Traditionen, die er nicht hat und nicht haben kann in einer Epoche, da alle Märkte längst übersättigt sind, und es nur noch darum geht, noch mehr sinnloses Zeug mit noch glänzenderen Lügen hineinzupumpen. Dinge, die man haben muss; Dinge, die einen dazu gehören lassen zur In-Crowd, zu den Trägern eines Brands, zu einer Kaste der Marktlakaien, die durch ihre massenhafte Austauschbarkeit auch heute noch keinerlei Anlass hätte, ein Grandhotel zu bevölkern – es sei denn als Diener der Absatzwirtschaft, als hemmungslose Pandemie der fiebrigen Konsumschweinegrippe und ihrer eitrigen Geldaushustungen.
So also sitzt die Globalisierung auf der Passhöhe in ihrem eigenen Gehäuse, entwickelt für Geschwindigkeit und die schnelle Konversation um die Frage, ob es sitzt und die Speckrollen auch gut wegretuschiert, ob die Schuhe das richtige Label tragen und wie lange es noch dauert, heim in die Vorstädte von Bochum, Leipzig, Amsterdam und Altötting. Es ist ehrlich wie rosa Söckchen und praktisch wie Ballonseide, es ist, was man bekommt, und es ist allen und jedem zugänglich, immer und ohne dass jemand die Augen verdrehen würde. Niemand muss sich hier Mühe geben, intelligent zu unterhalten, keiner muss hier die beste Garderobe tragen, eine Zange zum Weiten der Handschuhe verwenden oder gar ein Aquarell malen; und dennoch träumen auch sie, von prallen Papiertüten und all den tollen Rabatten und Preisnachlässen, wie das Dienstmädchen vor hundert Jahren davon träumte, einmal durch den Ballsaal zu wandeln.
Natürlich verkaufte auch das Grandhotel an seine bürgerlichen Gäste die eitle Lüge, in einem jener Paläste zu leben, zu dem sie jenseits der Sommerfrische keinen Zutritt hatten. Man vermarktete die Illusion, für ein paar Wochen dazu zu gehören, sich mit dem Tourismus zu erhöhen und der Klassengesellschaft ein Schnippchen zu schlagen.
Es waren feine Lügen, gut ausgedacht und eine zwingende Folge der gesellschaftlichen Veränderungen ihrer Zeit, an deren Ende nach Kriegen und Umwälzungen heute die Pest der gleichmachenden Einkaufszentren steht; auch sie Nichtorte und Durchgangsstationen, die Lügen sind nicht mehr so fein, und die Ansprüche gleich Null. Nach 30 Jahren wird man sie rational und kühl abreissen, weil sie nicht mehr genug Kundschaft ziehen, und Platz für eine neue Sensation benötigt wird. Kein Flammeninferno. Nur ein eitriges Geschwür, das durch eine neue, schlimmere Metastase ersetzt wird.