Herr, alle Tiefen, alle Höhen,
Erröten kenn ich, und Erblinden.
Ich hab dem Tod ins Aug gesehen.
Mich selbst nur kann ich nicht ergründen.
Francois Villon,
(Warnung: Unzusammenhängende Plauderei incl. Themaverfehlung) Eine gern über den “Grafen”, Alchemisten und Betrüger Alessandro Cagliostro kolportierte Geschichte handelt von seinem Diener, der gefragt wurde, ob er denn wisse, wie alt sein Herr sei, der von sich selbst die Legende in Umlauf brachte, er wisse um das Geheimnis der Unsterblichkeit. Der Diener gestand, da passen zu müssen, denn er selbst sei erst 200 Jahre bei seinem Herrn.
Gestern nun steckte ich im Stau, einer endlosen Blechkarawane von München bis in die lieblichen Hügel der Holledau, fragte mich, warum die nicht an die Ostsee oder nach Berlin oder Sibirien fahren, und hörte etwas Orlando di Lasso, als links ein VW “Beetle” – Käfer klang People’s Car wohl etwas zu Teutsch – vorbeikrabbelte. Von vorne das ganz normale Retro-Auto, aber von hinten auf die Spitze getrieben:
Da hatte der Besitzer, ein reichlich junger Mann, also ein sogenanntes Brezelfenster auf die Beckscheibe geklebt. Die Brezelfenster beim Original waren eine Sparmassnahme, weil ein gebogenes Glas für die Heckscheibe zu teuer gewesen wäre. Heute dagegen gibt man Geld aus, um schlechtere Sicht in einem neuen Auto zu haben, nur damit es alt wirkt. Man kann das rational für unsinnig erklären; es ist auch insofern erstaunlich, als es nicht die Aneignung einer hohen, sondern eher armen Tradition ist. Aber was tut man nicht alles für Geschichte.
In einer Zeit übrigens, die das Wort “Neu” automatisch mit “Gut”, “Richtig” und “Prima” assoziiert. Zumindest kenne ich keine Werbung mit dem Ausruf “Alt!”, “Wie schon immer” oder “Unverändert!”. Dabei ist das Alte stets eine Voraussetzung für das Neue, um sich davon abzuheben, und in Zeiten wie unseren, in denen nicht mehr die Produktion, sondern der Verkauf der überflüssigen Produktion mit ihren ultrakurzen Produktzyklen das Problem des Kapitalismus ist, wirkt so ein Brezelfenster wie eine herausgestreckte Zunge: Ätsch. Ich bin alt. Aber wie alt?
Mein biologisches Alter ist ca. 40 Jahre. Das Haus, zu dem ich fahre, und das mein Leben dominiert, ist 400 Jahre alt – in seiner jüngsten Bauphase. Meine Vorurteile sind mindestens 100 Jahre alt, vielleicht auch noch etwas älter, denn die ganz grosse Zeit des Clans liegt mitsamt der Dünkel noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert, als Steuereintreiben nicht nur für den Staat, sondern auch für seine Gehilfen einträglich war. Die meisten meiner Lieblingsbücher sind vor 1900 geschrieben. Der Heiratsmarkt, auf dem ich mit schlechten Renditen gehandelt werde, existiert seit Urzeiten, und Meran, wo ich gerade war, hatte seine grosse Zeit vor dem grossen Krieg, der sich dann als kleinerer Krieg entpuppte. In Meran kam auch obiger “Gruss aus der Küche” auf den Tisch.
Ich bin Vegetarier. Ich esse das nicht, aber trotzdem bin ich hoch erfreut. Der Mensch, der sich hier äusserst geschmeichelt fühlt, freut sich über das Geschirr mit Rokokoformen, über das Besteck mit Augsburger Faden, an den Höfen üblich seit 1700, an der zeitlos freundlichen Geste, am frischen Brot und den Tischdecken aus Stoff. Was sich hier in mir freut, ist nicht 40 Jahre alt, denn das müsste sich über Plastikbecher, orange Teller und praktische Kunststofftischdecken freuen. Hier freut sich trotz unerfüllten Hungers eine hochgradig vormoderne Komponente, und zwar weitaus mehr, als wenn sie ein Mobiltelefon oder eine Kreuzfahrt auf einem Aida-Schiff geschenkt bekäme.
Also, wie alt bin ich? 200 Jahre? 400 Jahren, wenn ich die Marmorplatten meines Jesuitenkollegs pflege? Oder nur 80, weil ich kein modernes Essen bestelle, sondern in etwa das, was meine Grosseltern auch schon in jener Jahreszeit in Meran geordert hätten? Käsknödel mit Pfifferlingen sind alles andere als neue Küche, Petersilie und Rosmarin sind alte Gewürze, man muss sich nur kurz die Szenerie in Schwarzweiss vorstellen – es muss nicht Gegenwart sein.
Natürlich bin ich froh um die deutsche Demokratie und das Ende der Ständegesellschaft, natürlich nehme ich die Errungenschaften der Technik mit, wenn ich sie brauche. Ich habe ein Telefon, aber ich empfinde nichts dafür. Ich habe ein Auto, aber was mir daran gefällt, ist die Undichtigkeit des Dachs, der laute Motor und der Verzicht auf eine Rückbank. Ich habe ein hochmodernes Blog beim Online-Auftritt einer Zeitung, das mit diesem Beitrag exakt 100 mal gefüllt wurde, ich muss auf Kongresse, um den wilden, jungen Mann aus dem Netz zu geben – und 8600 Kommentare lang geht es hier um abgespreizte Finger, veraltete Reiseziele, das alte Westdeutschland und tantenmordende Torten. Und ich sitze in einem Restaurant hoch über Meran am Tappeiner Weg – ein Weg, den man nur laufen kann. Es gibt hier kein Auto und keinen Parkplatz.
Das Haus wurde 1906 von einem herzkranken Belgier erbaut, der auf Gesundung im milden Klima hoffte; vergeblich allerdings, denn bald starb er. Das Haus wurde in eine Pension umgebaut und an die Kirche vererbt, die es 40 Jahre lang an einem der schönsten Flecken des Ortes zerfallen liess. Dann wurde die Ruine verkauft, restauriert und als Restaurant neu eröffnet; aber was heisst hier schon neu, wenn die letzten 8 Generationen meiner Familie vermutlich genauso zufrieden wären und die heutige Moderne kaum bemerken würden. Man hat es so modern wie nötig gemacht, und den Rest einfach belassen.
Doch, natürlich haben wir im Internet nach unserem Hotel geschaut. Sinnloser hätten wir kaum verfahren können, denn wie die Reisebegleiterin von ihren Eltern vernahm: Die kennen das Hotel, in dem seien ihre Grosseltern auch immer abgestiegen. Nicht zum ersten Mal habe ich den Eindruck, mit modernsten Mitteln nur an der Fortschreibung der Vergangenheit zu arbeiten, mal absichtlich, mal unabsichtlich.
Es gibt da die Redewendung von der “Vergangenheit, die einen einholt”. Und auf der anderen Seite die Forderung der Gegenwart, sich stets neu zu erfinden, altes wegzuwerfen, Identität anzupassen und das Leben als Wandel zu begreifen. Im ersten Fall wird man passiv überrollt, im zweiten gestaltet man halbaktiv seine – mehr oder weniger unendliche und aufgezwungene – Flucht. Was ich mir ganz angenehm vorstelle, und auch gern tun würde, ist einfach, mit der Vergangenheit in die Gegenwart zu spazieren. Die Vergangenheit ist nicht rundum positiv, aber wenn man sich das heraussucht, was an guten Dingen und Ideen bleibt, erspart man sich eine Menge Ärger. Ausserdem habe ich nicht den Eindruck, dass die Fluchthelfer der Moderne wissen, was genau sie tun.
Man betrachte nur das Internet, wo sich Menschen darum drängeln, Dienste als “Betatester” vor allen anderen zu benutzen. Sie sind die ersten, die etwas Neues sehen, und zwar so neu, dass es unausgereift, voller Fehler und Hirngespinste seiner Erfinder ist. Dazu kommen dann noch die deformierten Persönlichkeiten der Nutzer, die selbst auf der Flucht vor allem sind, was auch nur ein paar Monate alt sind, um so “vorne” zu bleiben. “Alter” wird dort nicht mehr in Jahren, sondern Versionen, Entwicklungsschritten und Wochen gemessen, was zählt, ist die Uploadgeschwindigkeit, das sofortige Verbreiten, die Statusmeldung. Der Sonnenuntergang ist schon 10 Tage vorbei, aber das macht nichts.
Eine gültige Antwort auf dieses diffuse Problem der Verortung in der Zeit und die – zugegeben – unsaubere Fragestellung habe ich auch nicht; nur so ein diffuses Gefühl, dass die Zeit weder homogen noch ein absoluter Wert ist, sondern ein fieser Witz der Gleichzeitigkeiten, bei dem man besser mitlacht, statt sein Opfer zu werden. Cagliostro, der von sich behauptete, der Herr über die Zeit zu sein, starb übrigens im Kerker der Päpste, und damit der anderen Institution, die das gleiche von sich behauptet. Wenn es irgendwie möglich ist, würde ich gerne einfach meine Zeit und mein Alter so beherrschen, wie ich es für richtig finde, und nicht so, wie es mir die Kurienkardinäle Gegenwart, Kapitalismus, Produktzyklus, Wertverlust und Abschreibung für den Gang zur Müllkippe der Geschichte (immer dem strengen Geruch der Verräter der hessischen SPD nach) vorschreiben.
Begleitspeise: Nachdem man in Meran unter den Lauben nicht immer das Beste serviert bekommt, und der Qualitätsunterschied zu dem dargestellten Restaurant wirklich enorm sein kann, möchte ich an dieser Stelle das Restaurant Saxifaga ausdrücklich empfehlen.