But there are also unknown unknowns – the ones we don’t know we don’t know.
Donald Rumsfeld 2002
Wenn man krank ist, geht man nicht zum Arzt. Unser Arzt ist Familienmitglied und beklagt sich, dass das ganze Dorf auf ihn hört, nur seine eigene Familie nicht. Beim Arzt bin ich früh genug, wenn ich tot bin, sagen die alten Frauen der Familie immer. Oder auch über Krankheiten: Es ist von selber gekommen, es wird von selber gehen. Womit sie wie fast immer recht haben, und das eine Mal, wo es nicht stimmt, entziehen sie sich elegant dem Nachweis ihres Irrtums. In bester Familientradition war ich also mit 19 Jahren auch nicht beim Arzt. Ich begleitete nur jemanden. Es war Sommer, es war in Kalifornien, es war unstillbares Nasenbluten bei meinem Mitfahrer.
Wir sassen also im kombinierten Warte/Behandlungssaal, die Krankenschwester fragte, ob Germany “a country or what” sei, lehnte in Unkenntnis dieser Weltregion die in Deutschland gekaufte Krankenversicherung ab und wollte wissen, ob wir Geld hatten, denn kostenlos ginge hier gar nichts. Der Arzt machte irgendwas hinter lindgrünen Plastikvorhängen an anderen Patienten, von denen einer laut schrie, und nachdem mein Bekannter nach einer kleinen Operation nicht mehr blutete, fuhren wir heim. Es war spät Nachts in Kalifornien und Tag in Deutschland. Ich rief in bester alteuropäischer Tradition meine Eltern an, erklärte ihnen die Lage und bat sie, was mir sehr peinlich war, um eine Überweisung, als wäre ich ein junger Engländer nach dem Besuch des Casinos von Monte Carlo. Der Arztbesuch hatte mehr als unser in Kalifornien gekaufter 73er Oldsmobile Delta 88 gekostet – candyrot mit weissem Dach und wulstiger Beule über dem Turbolader – und mich nach all dem lapprigen Brotersatz zu einem überzeugten alten Europäer gemacht.
Gute zwei Jahrzehnte später, wir schreiben das 21. Jahrhundert, gleicht sich das alles an. In meiner Heimat am Tegernsee sieht man die Resultate einer Medizin von Reichen für Reiche, in der geglättet, gespritzt und gestrafft wird, um dann den Rest vom Körper gleich wieder der Tortur der Kurortkonditoren auszusetzen. Es gibt welche, die dürfen zur Kur an den Tegernsee bei Strandbad und Casino, und andere, die zur Rehabilitation in die retardierten Regionen der Oberpfalz müssen. Schnelle Untersuchung ist für Kassenpatienten nicht so einfach. Während gern über die Gefahr einer Zwei-Klassen-Medizin geredet wird, haben wir längst drei Klassen; unten diejenigen, die bröckeln, in der Mitte viele, die sich halten, und oben jene, die dem Altern aktiv entgegenwirken.
Und es gibt in Amerika den inzwischen als gescheitert zu bewertenden Versuch, eine staatliche Krankenversicherung für alle einzuführen. Denn eine Krankenversicherung muss man dort nicht haben, und man verliert sie auch, wenn die Firma, die einen versichert hat, pleite geht. Was gerade nicht selten ist. Trotzdem gibt es massive Proteste gegen eine staatliche Krankenversicherung. Die sei sozialistisch. Es mache alle zwangsweise gleich. Und es sei deshalb aich unamerikanisch, sagen konservative Politiker. Und ich möchte beipflichten: Recht haben sie. Denn es gibt eine gewisse Amerikanischheit, von der man hoffen kann, dass man sie in Europa sehr genau zur Kenntnis nimmt. Denn ein gewisses Amerika ist mir, wenn man so will, seit jenen Sommertagen in Kalifornien nach Europa hinterhergekrochen.
Nicht nur in der Gesundheitspolitik. Mit eben jenen Einkaufszentren etwa, in denen die Unterschichten mit billigen Waren und Tätigkeiten bar jeder Fachkenntnis ruhig gestellt werden, und deren Finanzierung gerade dabei ist, die nächste Welle der Bankenkrise auszulösen. Der Rückbau des Staates nach angloamerikanischem Vorbild mit seinen Public Privat Partnerships, die so gut wie nie zum Nachteil des privaten Sektors verlaufen sind. Kapitalmarktfinanzierte Renten. Man sieht gerade in den USA, wohin das führt, wenn es mal mit dem Kapitalmarkt nicht so toll läuft: In die Altersarmut. Das deutsche Ziel der Rente mit 70 wird problemlos machbar, wenn mit 65 die Rentenfonds pleite gehen. Und nur, weil wir im oberen Drittel der Gesellschaft eine enorme Sparquote haben, beideutet nicht, das wir unten nicht auch massenhaft Konsumkredite an Subprime-Kunden hätten. Dafür haben wir Soldaten in einem reichlich unfertigen Krieg in Afghanistan, und Banken, die nach Übernahme angloamerikanischer Investmentfreuden staatlich gerettet werden müssen. Wir haben erhebliche Versuche, gegen den Willen der Bevölkerung gentechnisch veränderte Lebensmittel durchzusetzen. Es gibt Privatuniversitäten nach amerikanischem Vorbild, die wie Banken vom Staat gerettet werden müssen, prohibitive Studiengebühren gibt es auch, und Studienkredite von Banken, die man verbriefen und dann wieder als Wertpapiere handeln kann. Wie in Amerika.
Und nun stelle ich mir natürlich eine simple Frage: Warum gibt es hierzulande keinen Trend zum gesunden Unamerikanischen?
Mir, der ich schuldenfreier Selbstkocher, Nichtraucher und Nicht-TV-Konsument bin, kommt dieses in den letzten Jahren überdeutlich gewordene Amerika wie eine teure Mischung aus Privatfernsehen, Schnellrestaurant und Rauchen auf Schuldenbasis (vulgo: Unterschicht) vor. Angeblich hat man damit Spass, wird satt, und es soll auch entspannen, aber es führt am Ende dazu, dass man, von der Talkshow eingelullt, der hilfefreien Lebensabkürzung entgegen fettet und blödet, mit dem Werbebaseballkäbbie eines Einkaufszentrums auf dem oberen Fazialabschluss. Nicht alle machen das, nicht jeder, aber doch ein erheblicher Teil der Bevölkerung, solange die Kreditkarte noch Geld ausspuckt. Da bin ich gern etwas unamerikanisch. Darf ich das so sagen? Unamerikanisch, man vermutet da sofort, dass die ersten Seitenaufrufe vom Bundesinnenministerium kommen. Dabei hat dieses amerikanische Amerika vieles an sich, was konservativen deutschen Politikern ein Graus sein müsste. Gerade, wenn sie deutsch-konservativ sind.
Manchmal frage ich mich, ob dieses ruinöse geplatzte Äderchen in Kalifornien nicht auch der dortigen Ernährung geschuldet war. Wie fuhren von San Francisco aus in Gegenden, die wie Ostdeutschland aussahen, Arizona, Utha, Colorado, New Mexico, und in all den Käffern gab es nur eine Shopping Mall und ein Restaurant mit dem grossen M. Man hatte keine andere Wahl, auch wenn es einem nach ein paar Wochen zum Halse heraus hing. Man sah die Speisekarte und konnte sich an nichts mehr erinnern, was einem auch nur ansatzweise schmecken würde. Genau so geht es mir momentan mit Amerika. Ich sehe das Angebot, und verspüre ein Würgen. Zu viel Fett? Zu viel Naserümpfen? Irgendwann platzen die Adern.
Ich sehe in Amerika übrigens keine Abwehrschlacht gegen die angeblichen unamerikanischen Umtriebe der Gesundheitsreform, in der die Befürworter sagen: “Hey, ja, es ist unamerikanisch, es ist alteuropäisch, und dort krepiert man nicht einfach an einer harmlosen Lungenentzündung, weil man den Arzt nicht zahlen kann! Es ist gut, wenn mal etwas bei uns nicht amerikanisch ist, nach zwei vergeigten Kriegen, einer durchgeknallten Immobilienblase, einer extremen Wirtschaftskrise, Rekordarbeitslosigkeit und Rekordstaatsverschuldung. Lasst es uns einfach mal mit etwas Unamerikanischen probieren.”
Und solange dort derartige Reflektionen nicht auf breiter Basis stattfindet, fände ich es auch wirklich reizend, wenn man hierzulande nicht auf breiter Basis dauernd versuchen würde, das Land noch weiter zu amerikanisieren. Kultureller Austausch bedeutet schliesslich, das Richtige zu lernen und das Unpassende zu verwerfen. Und auch ich möchte dereinst in bester Tradition sterben, weil ich nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen bin, und nicht, weil der Arzt gerade an einem reicheren Patienten eine Botoxinjektion vornimmt.