Verzeihen Sie die Sache mit den Zigaretten. Ich habe Sie für einen armen Teufel gehalten.
Alberto Moravia, Der Konformist
Glücklicherweise bekomme ich doch die letzten regulären Karten, und muss niemanden anrufen, damit er bei der Gesellschaft anruft und Beziehungen spielen lässt. Ich bin also niemandem verpflichten, muss nicht in der Pause des Konzerts zur EM oder zum B. schlüpfen und mich für die Gnade bedanken, und kann mir sogar die freie Meinung erlauben, dass die Aufführung sehr gelungen, das Werk selbst jedoch nicht ganz zu Unrecht 200 Jahre lang vergessen war. Das Wühlen in den Archiven und Bibliotheken der Musikgeschichte ist sehr verdienstvoll, aber neben Juwelen kommt auch manch einfallsloser Talmi und Tand zum Vorschein, von den auch der Komponist mit Abstand von zwanzig Dezennien sagen würde, dass der Wert allenfalls wissenschaftlich sei: “Ach ja, 1795, Venedig, nun, das war so, also, der fette Propst brauchte eben bis Sonntag was, um die Erbtante zu beeindrucken, also habe ich ihm schnell etwas geschrieben, na ja, zwei Wochen später bin ich dann nach Bergamo…”
Ich kann mich mit meiner Begleiterin auch ungestraft über die Vertreter der Lokalpresse trefflich amüsieren. Mitunter scheint es mir, und die Realität an diesem Abend schickt sich an, es zu belegen, als gäbe es da eine verbindliche Tracht für die besonderen Anlässe: Immer irgendwie unpassende Hosen, immer verbeulte Jacken, immer Beige oder Braun und immer so, dass Jacke und Hose sich leicht beissen, gern auch übergrosse Muster und schlechte Schuhe bis hinunter zur Sportsandale. Mir ist nicht klar, woher all die “was mit Medien”-Jugendlichen die angenehme Vorstellung vom Tun und Treiben des Journalisten haben; vielleicht liegt es daran, dass sie zu selten in Konzerten kleiner Städte sind, wo sie die Realität sehen könnten: Kleine graue Männer in Beige, die auch in ergreifenden Momenten mit Kameras hantieren und nicht gerade zu ihrem Vergnügen anwesend sind.
Und auch nicht zum Vergnügen der besseren Gesellschaft, die sich hier, schwer behängt und mit steigenden Jahren überdeutlich parfümiert, in besten Kleidern eingefunden hat und stoisch im Dreiteiler bemerkt, wie heiss es in dieser Kirche werden kann, wenn sie drei Stunden lang voll besetzt ist. Aber nichts, kein stark süsslicher Geruch, kein Sauerstoffmangel, keine Überlänge gibt zur Verärgerung Anlass; man würde sich hier eher vor dem Altar den Kopf abschlagen lassen, als vorzeitig zu gehen oder auch nur ein Wort der Unzufriedenheit zu äussern – ausser natürlich wegen des Herrn mit der Kamera und den verbeulten Hosen in Beige. Der hat es gewagt, gerade in Momenten der effektvollen Stille vorzuspringen und Bilder von Sängern in eindrucksvollen Posen, aber ohne aufgerissene Münder zu machen. Journalistisch in Ordnung. Gesellschaftlich unerträglich.
“Sie, der Herr mit der Kamera”, faucht ein älterer Herr in meine Richtung, der ich mein kleines Gerät in der Hand halte. Aber noch bevor ich erstaunt reagieren kann, drückt er sich schon an mir vorbei und geht den Herrn in Beige an. “So geht das nicht. Nehmen Sie die Kamera weg. Sie haben sich hier zu benehmen. Verstanden?” Ich mache dezent ein paar Bilder schlechterer Qualität, und in der zweiten Hälfte verdrückt sich der Herr in Beige in die hinteren Reihen, wo er vergeblich versucht, einer älteren Frau den Stuhl zu nehmen. Das Ansehen der “grossen Hure Presse” also, um es mit Walter Mehring zu sagen, in den relevanten Kreisen der westdeutschen Städte und ihrer besseren Viertel ist schlecht, sehr schlecht. Nicht nur, weil ihre Vertreter nicht wie jemand aussehen, dem man vorgestellt werden möchte.
Die Aversion gegen diesen Stand ist auch nicht durch die skandalös schlechte Entlohnung dieser Leute in der Provinz zu erklären, über die jeder Facharbeiter beim Weltmarktführer vor der Stadt nur höhnisch lachen kann. Es ist auch nur teilweise jenen Artikeln geschuldet, in denen sich so ein Schmierfink erdreistet, über die Festnahme von Randalierern in der Altstadt zu schreiben, und zudem erwähnt, deren Eltern hätten den ungezogenen Nachwuchs Nachts um vier in Begleitung von Anwälten abgeholt – womit die Stellung der Eltern umrissen ist, und 48 Stunden später jeder im Westviertel weiss, mit wessen Bälgern man den eigenen Kindern ab sofort jeden Umgang verbietet. Das alles mag zur Ablehnung, ja sogar zur Kündigung oder anwaltlichen Intervention führen. Im Kern aber glaube ich, dass die wahre Ursache für den Hass auf Medien eine andere ist.
Der Umstand nämlich, dass den besseren Kreisen in jenen kleinen, dummen Städten jeden Tag ihre relative Bedeutungslosigkeit vorgeführt wird. Es gibt natürlich noch eine Lokalteil mit Hasenzüchtern vor den Todesanzeigen, ein Lokalradio und ein Lokalfernsehen drittklassiger Qualität. Aber dafür schickt man eben auch drittklassige Leute in Beige, man schreibt kleingeistige Kolumnen über Strassenpflasterung, man lässt es die Leser merken: Das hier ist die kleine Stadt. Draussen dagegen ist die grosse Welt. Und gegen deren Staatsopern in München, gegen deren Inszenierungen in Bayreuth, gegen deren Ausstellungen in Berlin und deren Prominente – seid ihr Staub. Da hilft auch keine Lobhudelei angesichts der Ausgrabungen in Archiven und des Imports von Sängern aus der nächsten Metropole. Kleine Männer in Beige erzählen einem, dass man ausserhalb der Stadtgrenzen eigentlich nichts zu melden hat. Und innerhalb ist die Topnachricht die Neuwahl des Reservistenvereinsvorstandes von Kösching.
Historisch gesehen ist das für die besseren Kreise eine reichlich neue Erfahrung. Dass in St. Tropez 80 Meter lange Yachten schaukeln, dass amerikanische Banken die Weltwirtschaft zerdrücken und in Brüssel entschieden wird, welche Apfelsorte nicht mehr den Normen entspricht, das alles hat es so früher nicht gegeben. Reichtum etwa war ein Begriff, der eine lokale Bezugsgrösse hatte. Reich definierte man an denen, die man in der Stadt sah. Reichtum drückte sich erst durch viele Fenster an den Strassenfronten der Häuser aus, dann durch Elektrifizierung, Möbel aus fernen Städten, Schiffsreisen, Motorräder und Automobile, deren Sitze man mit dem Blut geschossener Rehböcke versaute, das Tennishobby der Tochter. Reich war das, was man in seinem Umfeld als reich erleben konnte. Reich war für die armen Schlucker in der Schleifmühl der Privatier, dessen Kinder mit Goldstücken Schusser spielen durften. Es gab keine andere Vergleichsgrösse. Dank Zeitung, dank der “Leute”-Seiten gibt es nun Vergleichsmöglichkeiten; abgehalfterte Tennisspieler und aufgeblasene Moderatorinnen, CEOs unübersehbarer Firmenkomplexe und jede Menge Betreter roter Teppiche, und was sonst kleine graue Männer in Beige für wenig Geld als relevant, wirklich relevant erachten.
Natürlich bemüht man sich, etwas dagegen zu setzen, man überreicht Schecks für wohltätige Zwecke, baut den Kulturbetrieb aus und erwartet, dass man damit wohlgesonnene Aufnahme in die Medien findet. Hinten. Im Lokalen. Die bundesweite Aufmerksamkeit der kleinen grauen Männer in Beige bekommen allenfalls die Morde, die Kinderschänder, von denen man hier jüngst einen entdeckt hat, oder die Asozialen, die Kinder verhungern lassen, wie jüngst in der Region geschehen. Und so fegt man sie eben an, wenn sie mit ihren Kameras die Inszenierung der alten Westviertelpracht stören.
Man kann dieser in Verbitterung badenden Melancholie eine gewisse Berechtigung nicht absprechen, denn auf der anderen Seite lebt dieses Land durch diese Menschen. Eine Republik, die wirklich nur aus überlauten Talkshowgesichtern, unverantwortlichen Politikberatern, Friseuren, Köchen, Fernsehansagern, Erzieherinnen missratener Blagen, Wohlstandsverwahlosten und anderem hochgespülten Personal bestünde, wäre nicht angenehm und auch nicht lebensfähig. Jemand muss in der Leasing- und Abwrackrepublik Deutschland auch noch Autos komplett bezahlen, Häuser besitzen und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bewahren, egal, was einem ungewaschene Berliner Grossmäuler an Alternativen mit freier Beschäftigung vorlügen. Niemand käme hier auf die Idee, einem in der Pause mal schnell ein Konsumprodukt anzudrehen. Man kann sich darauf verlassen, dass sich zu spät Kommende entschuldigen und einem nicht die Rückseite zudrehen, wenn sie zu ihren Sitzen gelangen. Es gibt noch Stil und Etikette, sie ziehen sich hierher zurück, schaffen sich einen eigenen Raum, schotten sich ab und reagieren dann mitunter bösartig, wenn sie nicht respektiert werden.
So gesehen mag es vielleicht vergebens sein, vergessene Werke wieder zur Aufführung zu bringen. Aber das nur wenige Sekunden lange Schauspiel des beissenden Bürgertums und des verscheuchten grauen Mannes in Beige wäre es wert gewesen, für die Karten selbst bei EM anzurufen und sich im Gegenzug für eine Mitgliedschaft im Verein breitschlagen zu lassen. Dass es ihr dabei allein um meine Person und nicht meinen Beruf ginge, verstünde sich von selbst. Internet, nein, das liest man hier nicht. Glücklicherweise.