Manchmal ist der Druck von Vergangenheit und Zukunft von beiden Seiten so stark, dass mir absolut kein Raum für die Gegenwart zu bleiben scheint.
Evelyn Waugh, Wiedersehen mit Brideshead
Ich bin nicht unbedingt das, was man als arm bezeichnen würde. Und trotzdem: Ich könnte mir das Zeug des schwedischen Wegwerfmöbelhauses Ikea nicht leisten. Nicht nur, weil man in meinen Kreisen damit zeigte, dass man offensichtlich so arm ist, dass man zu Ikea müsste. Denn offen gesagt, finde ich diese Firma angesichts des Angebots – meist in Osteuropa zusammengeschluderte Waren – sogar extrem teuer. Und teuer ist schlecht, denn reich wird man nur, wenn man Geld behält, und es nicht verschleudert. Geld behalten sieht so aus:
Irgendwann vor gut 100 Jahren erwarb jemand einen grossen Satz KPM-Geschirr. Als die immer noch üppigen Reste dann vor drei Jahren in meinen Besitz gelangten, waren sie praktisch umsonst; davor jedoch hatten sie ein Jahrhundert gedient. Der Anschaffungspreis war sehr hoch, aber dafür hat das Geschirr auch 100 Jahre Glanz und Pracht auf die Tische vieler Familien gezaubert, und die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Ich habe keine Geschirrspülmaschine, denn beim Spülen kann ich bestens nachdenken. Dem empfindlichen Goldrand schade ich also nicht, und was an Abnutzung zu sehen ist, ist erwünschte Patina des erwünschten Alters. Es ist Luxus, es ist exklusiv, es passt mit aller Prunk in meine Wohnung unter Stuck und Kronleuchter, und es bereichert mich, geistig, menschlich und finanziell.
Natürlich passt das bei den wenigsten in die zeitgemäss schlichten Wohnungen, und so gehen sie eben in dieses Möbelhaus und kaufen dort ein. Ist ja auch nicht so teuer, denken sie. Das kann man sich schon mal leisten, sagen sie. Ist ja alles so praktisch, sagen sie. Ich mag kein Goldrand, ich mag bunt, sagt ihre Freundin. Ein kurzer, schmerzvoller Moment an der Kasse, wenn all die kleinen Eurobeträge einen grossen Eurobetrag nach sich ziehen, die Karte in den Schlitz gesteckt – und schon hat man etwas Modernes für den Glastisch, das im Licht der Halogenspots funkelt… Nun denn: Im Bemühen der Stützen der Gesellschaft, eben jene besser zu machen, habe ich deshalb keine Kosten und Mühen gescheut, den schlechtesten Flohmarkt der kleinen, dummen Stadt an der Donau aufgesucht, und dort eingekauft, um zu zeigen, wie man das macht, wenn man unbedingt etwas Modernes braucht, dabei aber das eigene Vermögen bewahren will:
Was hier gerade für mich verpackt wird – bei dem besagten Möbelhaus muss man das ja selbst tun – ist ein komplettes Service. Nicht irgendeines, sondern “Form 1840” aus dem renommierten Haus Arzberg. Der Designer ist auch kein Zeichenknecht in Schweden, dessen Entwürfe in einer Firma in einem Steuerparadies verwertet werden, um mit Lizenzzahlungen aus Ländern wie Deutschland die Steuern zu optimieren – sondern einer der besten Porzellanentwerfer des 20. Jahrhunderts: Hermann Gertsch. Der hat es mit seinem Entwurf Arzberg 1382 von 1931 in das Museum of Modern Art geschafft. Von Gretsch werden Zitate überliefert, die auch jedem Ikeabenutzer wie Öl runtergehen sollten: “Wir wollen weder das ‘Alte’ noch das ‘Neue’, sondern das Wahre, Echte, Zweckmäßige. Unsere Wohnungen sind weder Schaufensteranlagen, noch Magazine, noch Museen. Die Gegenstände, die wir brauchen, sollen nicht krampfhaft etwas vorstellen wollen, sondern in ihrer zweckgebundenen Schönheit eine natürliche und gesunde Umgebung mitgestalten helfen.“
Entsprechend schlicht und funktional, nachgerade “schwedisch” ist dann auch Form 1840. Menschen, die mit unisono geäusserten Jubelrufen den Katalog des Möbelhauses begrüssen, werden sich vermutlich auch nicht daran stören, dass Gretsch bei seinen Entwürfen eben solche begeisterten Massen im Auge hatte: In seiner Person vereinen sich nämlich die Gestaltungsideale des bauhauses mit den Volksidealen der NSDAP. Form 1840 kam 1938 auf den Markt, als Gretsch im Zenith seiner Karriere stand. Seit 1934 leitete er den gleichgeschalteten “Deutschen Werkbund”, seit 1935 war er Vorsitzender des “Bundes Deutscher Entwerfer”. An dieser Stelle unterdrücke ich natürlich jede Anspielung auf andere Aspekte jener Zeit, obwohl einem viele Parallelen auffallen könnten; es sei aber vermerkt, dass wir es hier tatsächlich mit originalem Geschirr aus jener Epoche zu tun haben, wie es die Porzellanmarke beweist. Trotzdem wird man angesichts des auch schon unter Hitler beliebten Rotrandes dem Service eine fluffige Moderne nicht absprechen können, die auch heutigen Konsumenten gefallen mag.
Und natürlich hat Gretsch nicht nur wie die alten KPM-Meister entworfen, er hat auch nachgedacht, wie es heute noch das Möbelhaus tut. Er dachte an das Volk, an Geringverdiener, an die Geschädigten der Weltwirtschaftskrise, an fallende Löhne, kleine Häuser und Wohnungen, an die beengten Verhältnisse der armen 30er Jahre, kurz, an den kleinbürgerlichen, begrenzten SA-Mann und seine das Haushaltsgeld verwaltende Frau. Die konnte sich über vorzügliche Platzeffizienz freuen; die Deckelgriffe der Terrinen sind so geformt, dass die Terrinen in einander stabil gestapelt werden können. Während man bei KPM einen ausladenden Geschirrschrank braucht, packte die deutsche Hausfrau alles – wie heute die globale Sekretärin ihr in Schweden gezeichnetes, in Osteuropa billig produziertes Geschirr – in einen kleinen, billigen Oberschrank, und schon war aufgeräumt. Es war nicht prunkvoll. Aber so praktisch! Und so leicht zu reinigen! Danach war noch genug Zeit, dem Führer ein Kind (oh, pardon, ich wollte das vermeiden).
Auch sonst greift Form 1840 stilistisch einigem vor: Nicht nur den Panzerkuppeln, die bald gen Osten rollen sollten, sondern auch der plumpen Ausformung, die man heute in Ehren hält. Das Geschirr ist so dick, als hätte man schon mit den alliierten Bombern oder der Flucht aus dem Osten gerechnet; und es ist auch so dick, wie auch besagtes Möbelhaus sein Porzellan und Steingut formt, denn deren Kunden fliehen nicht mehr vor dem Russen, sehr wohl aber von Mietwohnung zu Mietwohnung im globalen Verdrängungs- und Leistungskampf. Das kann schon mal runterfallen. Es sieht nicht wirklich edel aus, aber es passt in diese schlichte Zeit, wie es auch in die schlechte Zeit passte. Man muss es nicht besonders wertschätzen, man kann es über den Tisch schubsen, und wenn etwas kaputt geht, kauft man eben Neues – Arzberg war die erste Firma, die unter Gretsch diese Möglichkeit zum Einzel- und Sparkauf angeboten hat, die heute bei Ikea selbstverständlich ist.
Meins wäre es natürlich nicht. Form 1840 erinnert mich an ein Menü aus Linsensuppe, Hackbraten, Bohnen, Salzkartoffeln mit schwerer Sosse und danach Eierkuchen, gewissermassen die Mutter aller Ikeaspeisung und in Sachen Kochkompetenz auch die Stieftante der Tiefkühlpizza und des Kochens mit Margarine, Maggi Sossenfix und Glutamat. Für mich ist Form 1840 Ausdruck des gleichen Elends wie die Serie Ikea 365+; mit einer Ausnahme vielleicht: Das Service von Arzberg hat nach über 60 Jahren ein Alter erreicht, das heute nicht mehr in die Konsumwelt passt. Und es wird noch lange halten, wenn das im gleichen Umfang ungefähr 100 Euro teure Ikeaservice längst im Müll liegt. Form 1840 ist das Schlechteste, was ich besitze, aber es ist immerhin Arzberg und von einem bekannten Entwerfer. Vielleicht benutze ich es, wenn mal Kinder zu Besuch sind. Für Pasta und 5-Jährige taugt es. Es kostete insgesamt 12 Euro. Im Vergleich zu Ikea hätte ich 88 Euro gespart. 88 Euro ist nicht wenig Geld. Weder für den Ikeagründer, der in einem Schweizer Steuerparadies einen alten Volvo fahren soll, noch für mich, der ich Geschirr und Besteck auch noch nach 200 Jahren benutze. Aber offensichtlich ist es wenig Geld für alle, die bei diesem Möbelhaus einkaufen und glauben, es wäre billig, und sie würden sparen – und sich am Ende wundern, warum sie trotz aller dieser Sparsamkeit nie neben dem Ikeagründer wohnen, oder auch nur neben mir am Tegernsee.
Und nun könnte ich hier sitzen und auf die bestimmte Frage warten, mit deren Beantwortung man so trefflich den Fragenden diskriminieren kann. Nachdem sich das hier aber nicht schickt, möchte ich der Frage selbst vorgreifen, die da lautet: “Aber wenn Sie diese Firma verabscheuen, wo bringen Sie dann Ihre Bücher unter? Haben Sie kein Regal von denen? Jeder hat das doch.” Sie irren:
Wie alle echten Bibliomanen habe ich natürlich kein solches Regal. Ich baue mir wie alle Buchextremisten, die den Namen verdienen, meine Regale selbst in die Dachbalken meines Hauses ein. Was denn sonst.