Das Kasernenleben hat wieder angefangen und auch die schöne Jahreszeit.
Henri-Pierre Roché, Die beiden Engländerinnen und der Kontinent.
Es gibt so eine Art Durchschnitt für das, was Bewohner von Westvierteln ihren Kindern in dem 80er und 90er Jahren angedeihen liessen: Abitur auf einem harten bayerischen Gymnasium um jeden Preis, Studium in München, idealerweise mit Berufsziel Chefarzt, Ausstattung mit eigener Wohnung und eigenem Auto, zwei, drei Studienabbrüche in der Orientierungsphase in der Hoffnung, der Nachwuchs würde wenigstens bei Jura enden, 12+x Semester, davon bis zu 6 Semester Münchner Nachtleben in den angesagten Clubs plus der dort zu entrichtenden Studiengebühr. So gesehen war ich ziemlich unterdurchschnittlich, normal und langweilig, zumal ich meinem Fach treu blieb, und auch nicht trinke, rauche, Drogen konsumiere und andere Dinge treibe, die man schamhaft beim Treffen mit anderen Eltern verschweigen könnte. Selbst den offenen Wagen wollte nicht, sondern meine kleine Schwester – ich habe ihn nur später übernommen, um jetzt damit an den Lago Maggiore zu fahren.
Dass derartige nicht ganz billige Erziehungsbemühungen jedoch nicht zwingend notwendig sind, sieht man etwa am Beispiel des Sonnenkönigs. Ludwig XIV. hat man in seiner Jugend zum Spielen mit den Kindern der Diener in die Gräben des Louvre geschickt – geschadet hat es ihm nicht, und was er bei Schlägereien im Müll lernte, wandte er später erfolgreich in der Aussenpolitik an. Dergleichen Methoden jedoch wäre in unserer Zeit unvorstellbar, da eine Bekannte in der kleinen, dummen Stadt an der Donau mit der kalten Bemerkung einen Skandal verursachte, sie habe keine Lust, sich mit dem schulischen Versagen ihrer Tochter zu befassen, und wenn die es nicht schaffe, müsse sie eben auf die Realschule.
Das absolute Gegenteil dieser Haltung ist auf dem Vormarsch. Denn während es in meiner Jugend noch als Zeichen schulischer Inkompetenz, schlechter familiärer Verhältnisse oder gar Probleme mit dem Gesetz galt, wenn Eltern ihre Kinder in ein ausländisches Internat eingewiesen haben, spricht man heute darüber, als sei es ein besonderer Verdienst am Kind, es in eine Privatschule mit Rundumaufsicht zu stecken. Idealerweise in einem Prestigeinternat wie dem Lyceum Alpinum in Zuoz.
Von welcher Seite der Berge man auch kommt, ob von den grünen Wiesen am Tegernsee oder von der üppigen Palmenpracht des Lago di Como: Man kann nicht umhin, die Landschaft in jenem Graubündner Hochtal als gewöhnungsbedürftig zu umschreiben. Karg wäre ein anderes Wort, abweisend, schroff, auch etwas lebensfeindlich. In dieser Einöde eröffnete 1904 das Institut Engadina seine Tore, mit dem Ziel, die Kinder der internationalen Elite zu erziehen: Nicht mehr so locker wie Ludwig XIV, aber noch weiter weg als der Burggraben. Man kennt das aus den Gesellschaftsromanen jener Zeit: Man heiratet, bekommt Kinder, gibt sie dem Kindermädchen und überlässt den ganzen Ärger dem Personal, das dafür bezahlt wird. Anschliessend übernimmt in England und der Schweiz eine Privatschule, in Deutschland dagegen oft eine kirchliche Einrichtung die weitere Abrichtung der lieben Kleinen. Hauptsache, sie waren irgendwo untergebracht, blieben unter sich, und hatten die nötigen Einrichtungen, um sie zu Mitgliedern der besseren Gesellschaft zu machen.
Und so hat Zuoz alten einen Cricketplatz und eine Cricketmannschaft, und ein eher neues Leitbild, in dem sich Sätze finden wie: “In der Tradition des “Spirit of Zuoz” entwickeln unsere Schülerinnen und Schüler die Kompetenz, in einer komplexen Welt als “Global Citizens” bestehen zu können.” Einen Golfplatz mit internationalen Ansprüchen und ein Old Boys Netzwerk gibt es natürlich auch.
Ich kenne eine junge Dame, die einen Aufkleber der Schule am Heck ihres Sportwagens durch München fährt, und es gern tut. Es gefällt also, es kann also nicht so schlimm sein, wenn die Eltern bereit sind, die nicht ganz billigen Schulgebühren zu bezahlen. Allerdings kenne ich auch einen Fall, in dem die Kinder in so eine Anstalt sehr gegen ihren Willen verfrachtet wurden. Man muss als Eltern eben manchmal Entscheidungen treffen; natürlich ist einiges zu bezahlen, aber da oben in den Bergen kann der Nachwuchs keinen Blödsinn anstellen, wie er im Westviertel nur zu oft den teuren Anlass für übelste Nachreden gibt. Kinder sind auch so schon teuer genug, und wer will es den Erziehungsberechtigten verübeln, wenn sie noch etwas mehr investieren und dafür die Garantie bekommen, dass alles wunschgemäss verläuft.
Man muss bei solchen Preisen natürlich auch bedenken, dass eine Erziehung daheim teuer ist. Bei einem Stundensatz von 500 Euro, den ein besserer global citizen im Wirtschaftsleben verlangen kann, würden gerade mal 100 Stunden eher unprofessionelle Erziehungsarbeit so viel wie ein ganzes Jahr in den Bergen kosten. Sprich, 20 Minuten Beschäftigung pro Tag mit einem Kind sind für die Elite teurer als eine Komplettbetreuung. Und wenn man noch die Ersparnis bei Kindermädchen, Putzfrau, Nachhilfe, Rechtsanwalt, Ärzten und wegen des ausbleibenden Anrufes um drei Uhr Nachts, das Balg nach der Abtretung etlicher Aussenspiegel bei der Polizei abzuholen, miteinrechnet – dann lohnt sich die Verbringung in das Hochtal auch ohne die erstklassigen Zukunftsaussichten, die derartige Institutionen fast garantieren können, mit Skipiste neben dem Schulhaus.
Allerdings, so mag mir scheinen, wird Zuoz selbst Opfer des eigenen Erfolges. Denn die Zucht der Elite ist längst nicht mehr das Thema einzelner Institute in der Schweiz und in Süddeutschland. Es beginnt heute schon in staatlich bezuschussten, privaten Kindergärten mit Kursen in den wichtigsten Weltsprachen, mit prohibitiven Aufnahmegebühren und Begrenzung auf das richtige Klientel – ein schnell wachsender Markt, in dem sich viele neue Anbieter rührend um Kinder bemühen, deren Eltern sie nicht schon mit 3 Jahren vom internationalen Standard abgehängt sehen möchten. Es wird die Normalität in dysfunktionalen Regionen wie Berlin, wo man auch als Protestant mit besserem Einkommen die Kinder zu den Jesuiten schickt, auf dass sie nicht die staatlichen Schulen und deren Nachwuchskriminelle besuchen müssen. Und ein Leitbild für den globalen Wettbewerb hat heute auch so manche Schule besserer Provinzkäffer. Früher, in meiner Zeit, als die ältesten Lehrer ihre ersten pädagogischen Erfahrungen noch in der Waffen-SS gesammelt hatten, nannte man das Drill. Heute hat man dafür sicher ein paar nette Umschreibungen, die stark danach klingen, als wäre die Elitenzucht ein Dienst an der Gesellschaft.
Elite entsteht an Orten, wohin man als Aussenstehender nicht aufsteigen kann, wo Grenzen undurchdringbar und Abstände nicht zu verkleinern sind. Zuoz war das früher, aber das Auseinanderbrechen der Gesellschaft in Arm und Reich sorgt dafür, dass die Reichen ihre Kinder gern weiter oben sehen möchten. Und so, wie der Bereich zwischen staatlichen Schulen und Zuoz mit privaten Angeboten aufgefüllt wird, wie sich die Rampe der neuen “public schools” und “school centers of excellence” an das Hochtal heranschiebt, wird auch jemand kommen und etwas vermarkten, was noch exklusiver, noch besser, noch teurer ist. Weil es welche gibt, die es sich leisten können, und der erstklassige Standort von 1904 im Jahr 2010 auch anderswo liegen könnte: Irgendein Land, das klimatische Vorteile hat, Eltern nicht ab und an in dieses kalte Hochtal zwingt, und dessen Bewohner auch keine feigen Schweizer sind, die ihre besten Kunden gerade an die Steuerfahndung in den USA und Frankreich ausliefern.
Wir aber verlassen das Hochtal und die Schweiz, fahren hinunter nach Italien und erreichen das Ziel dieser Reise: Stresa am Lago Maggiore, in das gerade jeder Rentner der Welt einzufallen scheint.