Hitherto, the German has had the blessed fortune to be exceptionally well governed; if this continue, it will go well with him. When his troubles will begin will be when by any chance something goes wrong with the governing machine.
Jerome K. Jerome, Three Men on a Bummel
Auf eine neue Ausgabe des Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird man wohl noch eine Weile warten müssen, schliesslich gibt es eine neue Bundesregierung, und zwar eine von der Sorte, die sehr grosszügig allgemein mehr Reichtum versprochen hat; man darf also annehmen, dass man sich erst mal überlegen wird, wie man die Armutsdefinition den neuen Zielsetzungen anpasst. Was den hier hauseigenen Reichtumsbericht selbst angeht – den anzupassen, habe ich mich heute an den Tegernsee begeben.
Reichlich spät übrigens. Ich war lange im Bett. Es soll zwar neue Kabinettsmitglieder geben, die der Ansicht sind, dass Frühaufsteher mehr verdienen sollten, als jene, die lang liegen bleiben, aber das gilt ja wohl kaum für Berufssöhne – welcher reiche Papa will sich schon den Tag verderben, indem er die Nichtswürdigkeit seines Nachwuchses schon vor dem Frühstück zu Gesicht bekommt – Erben, und all jene, die eine Sekretärin haben, die einen fragen, ob es nicht auch in drei Stunden noch ginge. Frühes Aufstehen ist, das möchte ich klar betonen, in meinem Kreisen kein Kriterium für Vermögen und auch keines, das Kreuzerl bei der FDP zu machen. Früh aufgestanden wird nach meiner Erfahrung eigentlich nur, wenn die Putzfrau kommt und man das, was einem zu peinlich ist, noch schnell selbst in jenen Schrank verräumt, der für die Putzfrau tabu ist.
Reichlich spät also komme ich in Kloster Reutberg an, dessen Hauptattraktion vielleicht weniger die düstere Kirche ist, in der man sich das Schicksal der deutschen Sozialdemokratie angesichts des Wählerurteils anschauen kann. Reutberg hat ein sog. “Bräustüberl”, das hat eine Terrasse und die wiederum hat einen spektakulären Blick auf die Alpenkette und einen hübschen Teil dessen, was man gemeinhin als “Münchner Süden” bezeichnet, eine Region bar jeder finanziellen Probleme, und, nehmen wir nur mal den schönen Tegernsee, auch besserverdienende Wähler, von denen jeder 5. der FDP seine Stimme gibt. Das ist ziemlich viel, nicht nur für bayerische Verhältnisse. Nicht, dass ich das gut fände – das Problem ist, dass ich es gut finden muss.
Ich sitze also unter einer riesigen Kastanie in einem sonnigen, bayerischen Biergarten bei 21 Grad Celsius und warte auf meinen Semmelknödel mit frischen – wirklich frischen – Pfifferlingen und einer Rahmsosse, so schwer wie die Stunden im SPD-Hauptquartier. In Berlin sitzen woanders Leute und überlegen sich, wie sie die Erbschaftssteuer am besten komplett abschaffen. Einfach so. Für den, der es kennt, klingt das bestens: Keine langwierigen Debatten mehr mit dem Finanzamt, keine Notverkäufe von Aktienpaketen, um die bei der Trauerarbeit störenden Steuerbüttel zu entlohnen, keine ekelhaft-mickrigen Regelungen zum Wohneigentum – 200 selbstgenutzte Quadratmeter sind aktuell steuerfrei, das ist reichlich wenig, wenn, sagen wir mal, allein das Stammhaus 50+x Räume und ein Gesindehaus hat. Verlierer bei dieser Abschaffung sind allenfalls die ebenfalls erbschaftssteuerfreien Österreicher, zu denen man zwecks Vererbung dann nicht mehr fliehen muss, wie es eine gewisse Zeit lang in dieser Region nicht selten war.
Die Stimmung ist allgemein gut, niemand scheint hier Sorgen zu haben. Sorgen müsste man haben, würde man in Berlin bei den selbsterklärten und leistungsbereiten Frühaufstehern etwas tun: Eine Vermögenssteuer einführen etwa. Der Verzicht darauf ist zwar auch nicht mehr Netto vom Brutto, aber diese angenehme Unterlassung provoziert keinen Streit in der Koalition, kostet nichts und muss auch nicht beschlossen werden, womit man mehr Zeit hat, sich Fragen wie dem Spitzensteuersatz und der Mehrwertsteuer zu widmen. Ebenfalls kaum ein Thema im Koalitionsvertrag: Mehr Geld für Steuerfahndung. Man darf also erwarten, als Deutscher in der Schweiz nicht mehr wegen unvorsichtiger Äusserungen eines gesetzestreuen – wo käme man damit hin, wenn nicht auf die Hinterbank – Finanzministers misstrauisch angeschaut zu werden, wenn man jenes Bargeld einzahlen möchte, das man nun mehr ererbt. Man muss sich nicht mehr als Brite ausgeben. All die Irritationen der letzten Jahre werden sich schnell verflüchtigen, es wird alles wie früher sein.
Also, danach fahre ich zum See, der Konditor ist voll wie immer, und das wird er auch noch sein, wenn die Mehrwertsteuer bei 25% liegt, denn darauf kommt es hier nicht an. “Wir brauchen nichts geschenkt, wir können uns das alles selber leisten”, sagte meine Grossmutter immer und hatte damit wie immer recht. Die Mutter eines Verwandten, der gerade in Berlin ein Mandat bekam, hat gerade das gleiche zu Protokoll gegeben. Wir sind nicht vom Staat abhängig. Wir zahlen selbst, wir haben genug. Und die Mehrheit hat demokratisch entschieden, dass es auch so bleibt.
Ich gehe etwas am See spazieren, als eine Bekannte anruft, die sich in einer Bank langsam, aber beständig aufarbeitet. Warum ich verstimmt sei, will sie wissen, es sei doch alles prima. Das ist noch vor der am Abend eintreffenden Nachricht, dass die Deutsche Bank mal wieder 1300 Stellen streichen will, und wenn die anderen nachziehen, werden sie es leichter haben, wenn der Kündigungsschutz neu geregelt wird. Alles ist bestens; zusammen mit Studiengebühren hilft das sicher, die Schar der Neureichen ohne Manieren effektiv zu reduzieren. Und wenn sie im nächsten Beruf nicht mal mehr einen Mindestlohn bekommen, ist das auch auf Dauer prohibitiv. Ihr habt doch wirklich nur Vorteile, bemerkt meine Bekannte kopfschüttelnd und weigert sich, meine schlechte Laune zu verstehen. Statt dessen rechnet sie mir vor, was ich mit den Veränderungen gewinnen werde. Sie wäre froh, wenn sie in meiner Lage wäre. Willst Du mich heiraten, frage ich sie, die seit der Schulzeit den ersten Freund behalten hat, durch alle Kleinhöhen und zunehmenden Abgrundtiefen. Nein, sagt sie und lacht. Siehst Du, sage ich, warum sollte ich mich freuen, wenn ich mit dieser Regierung zwangsbeglückt werde. Oben im Seerestaurant trinken sie Weisswein bedächtig aus überdimensionierten Gläsern. Es ist immer noch warm.
Wir plaudern noch ein wenig, ich über Politik, sie beschwichtigt und erzählt von ersten Alterserscheinungen, die ich verleugne, gut hat sie sich gehalten, attraktiv sei sie, auf diese Art, wie es Bankmitarbeiterinnen manchmal sein können, trotz der Uniformkostüme; aber sie muss nächste Woche wirklich zum Arzt, wird schon nichts Schlimmes sein, und sie ist Privatpatientin. Na dann. Das ist schon mal was. Das ist nicht jeder. In Zukunft werden es vielleicht mehr, bei weniger Leistung. Zu negativ, meint sie, bist Du heute, und zwischen Buchmesse und Medientagen kommt sie mal vorbei und erklärt mir das noch mal in Ruhe. Bedenken seien überflüssig, wenn man das eine wählt und vom anderen profitiert. Ich kann also gar nicht verlieren.
Und wie in einem schlechten Roman des Symbolismus ziehen mit dem Sonnenuntergang die Wolken auf, im Lichte Gmund, Tegernsee, Rottach und Bad Wiessee, unter der grauen Bleidecke alles, was nördlich ist: Deutschland, der grösste Teil davon. Es ist nicht gerecht, aber was heisst das schon in diesen Tagen. Ich bekomme vermutlich mehr Netto von anderer Leute Brutto. Deine Leistung muss sich für mich lohnen. Unser Wachstum durch Eure Arbeit. Ich trage massgefertigte Schuhe aus Verona, Anzug und Hemd von Féraud und eine Gruen Curvex. Ich bin am See, und morgen soll hier, aber nur hier im Süden, der letzte Sommertag sein. Ich wohne hier. Keine Sekunde meines Lebens müsste ich nach Berlin, Gelsenkirchen oder Rostock, und nichts brauche ich von diesem Staat. Alles ist bestens. Es ist ein reiches Land, und man kann frei wählen. Es gibt keinen Grund zum Klagen.
Alles wird gut. Und wenn nicht, dann bleibt das Schlechte auch diesmal wieder weiter nördlich bei den anderen hängen, und wird vom rosigen Süden ferngehalten.