Rufe nur mit Andacht zu Maria. Sie wird deine Not nicht unbeachtet lassen, da sie barmherzig, gar die Mutter der Barmherzigkeit ist.
Bernhard von Clairvaux
Schon immer waren Trauben am Haus, die Familie kennt es nicht anders. Schon die erste bekannte Abbildung aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigt Traubenstöcke seitlich der Türen. Damals war das normal. Viele Häuser, die heute vom Geld der kleinen, dummer Stadt an der Donau in allen historischen Bonbonfarben erstrahlen, waren früher grün vom Weinlaub, und im Herbst setzte man selbst Wein an, dessen Ausdünstungen in der Sonne die Kinder beschwipste. Im 20. Jahrhundert wurden die Stöcke dann abgeholzt, und nur bei uns blieben sie bestehen, denn der Stock gehört zum Haus. Starb ein Weinstock, wurde sofort ein Nachfolger gepflanzt. Die Touristen, die vor das Haus geführt werden, um seine Bedeutung in der deutschen Geschichte zu erfahren – die Gesellschaft Jesu agitierte von hier aus gegen die Häresie, eine Schlüsselfigur des 30-jährigen Krieges starb hier – finden erfreulicherweise den Weinstock oft schöner als die grausame Historie, der bis zur Säkularisierung noch andere, wenig erbauliche Geschichten folgen sollten, in diesem Bollwerk der Gegenreformation. Sie machen davon Bilder und fragen manchmal auch, ob sie probieren dürfen, bevor sie zur nächsten Sehenswürdigkeit getrieben werden.
Die jedoch, die jeden Tag hier sind, würdigen die Weinstöcke keines Blickes. Jeden Nachmittag wird die sonst eher ruhige Altstadtstrasse laut, dann kommen die Autos. Hier ist überall Parkverbot und Feuerwehranfahrtszone, schliesslich ist das hier eine besondere Gegend voller Denkmäler, aber das kümmert die motorisierten Horden nicht. Alle kommen sie zu früh, denn wer nicht pünktlich kommt, findet keinen Platz mehr, und muss im Kreis fahren. Der beste Platz ist unter meinem Weinstock, unter meinem Fenster. Je mehr Zeit sie haben, je mehr sie sich das warten leisten können, desto besser stehen die Chancen für diesen Platz an der richtigen Stelle. Denn gegenüber ist das Tor der Schule, und da kommen die Kinder raus. Jene, die nach Hause laufen können. Jene, die den Bus in die Vorstädte nehmen müssen. Und jene, auf die sie warten. Jene, denen man den Nahverkehr und seine Grausamkeiten nicht zumuten will.
Die ganze Strasse ist voll von Müttern. Das sagt einiges aus über den Stand der Emanzipation und den Folgen von 68 in jenen Kreisen der Stadt, die ihren Kindern – und hier mehrheitlich Töchtern – ein musisches Gymnasium angedeihen lassen, das traditionell als jenes gilt, das dem Nachwuchs keinesfalls die schwersten Wissenssteine in die Wege legt. Man kann sich oft auf die Tradition berufen, denn früher war es eine Klosterschule und damit die einzige, in denen Frauen die Hochschulreife erlangen konnten. Manchmal sind sie dort schon in der dritten oder vierten Generation. Und immer sind es die Mütter, die die Kinder holen. Es macht nicht den Anschein, als hätten sie viel zu arbeiten, wenn sie, nur um die besten Plätze im Parkverbot zu ergattern, eine halbe Stunde unter meinem Weinstock ihre Cabrios vorführen und sich langweilen.
Eine halbe Stunde, die man in diesen besten Platz investiert, damit die Tochter einen sofort findet, kann lang werden. Das Mobiltelefon hat sich in dieser Stadt, wie in vielen anderen kleinen Städten, noch nicht als Zeittotschläger durchgesetzt, also sitzen sie in ihren Wägen und beschäftigen sich anderweitig. Prüfen die Kosmetik. Überlegen vielleicht, wann sie wieder zum Friseur gehen können. Betrachten ihre Hände. Mit einem gewissen Missmut. Frauen fangen in einem bestimmten Alter, mit dem Wachsen ihrer Töchter an, ihre Hände zu betrachten. Die Finger. An denen erkennt man, wie es mit der Alterung so vorangeht. Dort wird die Haut mürbe und wirft spitze Falten, dort herrscht Handlungsbedarf, ein zäher Kampf ist auszufechten mit Hilfe der Maniküre, gegen einen Feind, der am Ende immer gewinnt. Später einmal werden sie in der Oper sitzen und die eine Hand vor die andere legen, und die vordere Hand wird die hintere umklammern, dann sieht man an beiden nicht die Spuren jener Zeit, die Botox und Straffung eine Weile aus dem Gesicht schieben können. Aber noch ist es nicht so weit, noch ist das Kind in der Schule, noch können sie sich sicher sein, dass man es nicht wirklich erkennt oder erkennen will, denn gemeinhin sind Männer auch nicht so indiskret, auf den Sachverhalt hinzuweisen. Mit Ringen kann man diese Frauen stets beeindrucken, sagt man damit doch, dass ihre Hände es wert sind, dass man mit Gold und Steinen die Blicke darauf lenkt. Es sind diese Mechanismen, die Frauen dazu bringen, selbst die Gartenarbeit mit Brilliantringen zu verrichten.
Sie reden übrigens nicht miteinander. Vielleicht, weil solche Gespräche immer schnell unschicklich werden, wenn man beginnt, Kinder zu vergleichen. Die Kindermodenindustrie erlaubt ohnehin subtile Ausdifferenzierungen, ohne dass man viel sagen müsste, und die Noten sind nicht das, was die Kinder vollbringen, sondern was im Zweifelsfall die Nachhilfe zu leisten im Stande ist. Auch darüber spricht man nicht. Abitur ist wichtig, ein Instrument soll auf jeden Fall sein, Studium natürlich auch, aber das Rollenbild sieht nicht zwingend einen Beruf vor. Warum sollte nicht auch die Tochter, gut verheiratet, in einem Cabrio eine halbe Stunde auf die Tochter warten, dann schon in der 5. Generation.
So verfliessen die Minuten des Lebens, während daheim jemand anderes vermutlich das Essen bereitet, ein Au Pair vielleicht oder die Haushälterin, oder sie gehen Essen, was sich in den letzten Jahren auch verbreitet hat – das sind dann aber jene Mütter, die das Auto in der Tiefgarage abstellen und am anderen Tor warten, oder gleich im Restaurant schräg gegenüber der Schule. Danach kann man noch einkaufen, und keine Küche muss aufgeräumt werden. Dann, nach einer halben Stunde unter meinem Weinstock, der Schulgong, Horden kommen heraus, mittendrin die Tochter, Mama schiebt die Sonnenbrille in die Haare, es gibt Küsschen, der Rucksack verschwindet auf dem Rücksitz, und dann rollt das Cabrio aus der Altstadt hinaus zu jener Villa, die man sich leisten kann.
Sind erst die Parkplätze in der Parkverbotszone frei, fahren jene, die zu spät kamen und vielleicht nur einen Firmenkombi vom Mann haben, aus der Feuerwehranfahrtszone vor unter den Weinstock, damit auch ihre Töchter sofort sehen, dass Mami auf sie wartet. Es kann immer etwas dauern, die Töchter nämlich haben das Mobiltelefon durchaus für sich entdeckt, es gibt viel zu bereden, bevor man den Rest daheim im sozialen Netzwerk bespricht, Jaqueline ist total doof, Kerstin bekommt nie einen Freund und Sarah braucht Nachhilfe, weil sie zu dumm für Mathe ist. Sie können sich Zeit lassen, sie müssen keinen Bus erwischen oder nach Hause radeln, um pünktlich beim Essen zu sein. Mutter ist ja draussen und wartet. Die Tochter der Asiatin, die nach Deutschland bestellt wurde und hier erst das Leben des Bestellers auf Vordermann brachte, um danach ihre Töchter zu Spitzenleisterinnen im Chor und allen Fächern zu trimmen, die Tochter der Asiatin muss natürlich schnell zum Bus. Die Tochter, deren Mutter wartet, und deren Freundin, sie schlendern über die Strasse, schlecht gelaunt vom öden Unterricht, und dann verschwinden auch sie in jenem dunklen Kombi von der Art, wie auch Vertriebler ihn schätzen, für ihre Rasereien auf der Autobahn und für ihre Frauen und Kinder, denn nicht jeder findet es gut, wenn sich seine Frau in einem Cabrio vor allen anderen kapriziert.
Dann sind sie weg, die Strasse ist wieder frei, das Leben geht in den Vorstädten weiter, zwischen Hausaufgaben und Feuchtigkeitscreme und Einkauf, vielleicht ein paar Bioäpfel oder ein Wellnesswochenende, während dem man die Tochter zum Reiten schickt, oder vielleicht findet sie doch Gefallen an dem Golfkurs, den auch die Nachbarn ihre Tochter machen lassen. Natürlich nicht in der mickrigen Anlage am Krankenhaus, sondern im herzoglichen Golfplatz, weil, wenn man schon in das Kind investiert, dann gleich richtig. Ich gehe derweilen hinunter, klettere mit der Leiter hinauf zu den Trauben, und erzähle Touristen, dass er schon immer zum Haus gehört hat, und dass es schon immer so war, was heute nicht mehr selbstverständlich ist.