Sein Anzug ist in Unordnung geraten. Welch kläglicher Anblick!
Barbey d’Aurevilly, Vom Dandytum und von G. Brummell.
Wir waren jung, aber nur begrenzt klug. Sicher, wir hatten viele Bücher gelesen und ein bayerisches Abitur, und wir hätten schon damals Leute ausgelacht, die 140 hingesabbelte Zeichen bei Twitter mit einem Medium verwechselt hätten, absurd wäre uns das vorgekommen. Aber wir hatten auch zwei Jahrzehnte in den besseren Vierteln einer kleinen, dummen Stadt an der Donau zugebracht, und wir waren lebenshungrig, da denkt man oft nicht nach. Uns ein Auto und Geld zu geben, und uns nach München zu entlassen, war ein feiner Zug unserer Eltern, die aber nicht wirklich wussten, was wir taten. Wir verleugneten nicht unsere Herkunft, denn angesichts des Netzwerkes anderer Söhne besserer Häuser unserer Heimatstadt, die in München Parties veranstalteten und alles und jeden kannten, wäre das nicht sinnvoll gewesen.
Aber wir begehrten gegen den Stil der kleinen, dummen Stadt an der Donau auf. Und kauften Budapester, schwarze Anzüge von Gaultier, weisse Hemden von Byblos, wir bevölkerten die Designabteilung bei Beck und alle Häuser von Annas. Es war die Zeit, da man natürlich im Anzug mit Schalkragen aus der Staatsoper in das Parkcafe ging, und Träger von Pullovern und Baseballkappen draussen blieben, dem Türsteher und seiner Übertragung unserer gewohnten Klassengesellschaft auf das Publikum sei Dank. Es war eine feine Zeit, die Gegensätze zwischen Populär- und Hochkultur waren nicht unüberbrückbar wie heute, es gab nicht die Kulturkämpfe, die Mitte der 90er aufkommen sollten, als sich die ersten als amerikanische Ghettokinder verkleideten und dann bald nach Berlin gingen, wo sie noch heute Projekte machen.
Unsere nach aussen getragene Revolte – zur Hölle mit den heimischen Erbsenzählern in ihren billigen Anzügen und Plastikschuhen, den angepassten BWLlern in Passau und den weissgesockten Maschinenbauern – wäre uns vielleicht weniger schick vorgekommen, hätten wir uns damals Gedanken darüber gemacht, wo Kleidung produziert wird. In jenen Tagen war es nicht das exotische chinesische Mörderreich oder die italienische Mafia, die das Geschäft kontrollierte, nein, wir hingen an einer sehr viel kürzeren Leine, als uns bewusst war, denn oft stand zwar “Paris” in unseren äusserlichsten Hüllen, aber dort waren allenfalls die Designer anzutreffen. Vieles, allzu vieles wurde nicht fern von München genäht. In exakt jener kleinen, dummen Stadt an der Donau, aus der wir auch kamen. Denn dort gab es eine Firma, deren achthundert Beschäftigte für andere, bedeutende Marken nähten.
“Es kommt nicht darauf an, welche Marke in einem Anzug steht, solange er von Bäumler gemacht wurde” – das sind die Sprüche, die man heute über jene grosse Zeit der Firma hört, als sie nicht nur ein wichtiger Arbeitgeber, sondern auch einer der besten Hersteller war. Uns kam es nur etwas peinlich vor, wenn “unsere” Geschäfte ab und an Produkte der Kernmarke aus “unserer” Heimat führten, und wähnten uns mit französischen und italienischen Stoffen und Namen auf der anderen, der stilistisch sicheren Seite – heute, rückblickend, ohne die Erfindungen des Marketings aus Mailand und Paris, war es nur ein kleiner Kreis, der sich da zwischen Westviertel und Fabrik im Osten schloss. Aber wenigstens waren die Stoffe und die Verarbeitung gut, bei den Manageranzügen der Väter wie auch bei den Designeranzügen der Söhne.
Zwischen jenen Zeiten nie endender Nächte und heute jedoch liegt die Globalisierung, und während die ganze Welt unbedingt die Automobile der kleinen, dummen Stadt an der Donau will, sieht es mit den Anzügen anders aus. Dort regierte der Preis und damit der Kostendruck angesichts des Arbeitsaufwandes, und erst reichlich spät, aber immerhin noch vor der Pleite verabschiedete sich Bäumler aus der deutschen Produktion. Andere überlebten durch die Erfindung eines besonderen Paris-Mailand-New York-Gefühls um die Produkte, aber auch, wenn dort Industrie wie überall sonst aussieht: Mit der kleinen, dummen Stadt an der Donau war man gegen die Metropolen nicht konkurrenzfähig. Weder beim Ruf, noch beim Preis. Also versuchte man die gleiche Qualität wie früher zu produzieren, nur eben über Subunternehmen in Fernost, in Rumänien oder der Türkei. So plante man von Seiten der Eigentümer, erst die Besitzerfamilie, dann die seltsame Konstruktion zweier Fonds, die die Firma übernahmen.
Trotzdem kaufte man dort ein, die Väter ohnehin und die Söhne, die irgendwann etwas Klassisches brauchten, später auch. Es sind diese seltsamen männlichen Verhaltensweisen, die einen etwas finden lassen, das man ab diesem Zeitpunkt aus Bequemlichkeit immer weiter macht, und, wenn man klug ist, zur Tradition erhebt: Weil es aus der eigenen Stadt kommt und man die Leute kennt, weil es für die Nichtpariser Körper der hier Wohnenden geschneidert wurde, weil es einmal passt und man immer davon ausgehen kann, dass man für einen gewissen Preis eine gewisse Leistung bekommt. So war es lange Zeit bei Mercedes, so ist es beim Friseur und den Gaststätten, man gewöhnt sich ein und bleibt dabei, und so ist es auch bei diesem Schneider gewesen: Unbeweglich, solide, um das Kreative sollen sich andere kümmern.
Und hätten die besitzenden Fonds für die Finanzierung der Geschäfte die Sparkasse genommen, und nicht, wie in diesem Geschäft zwischen Zürich und London heute üblich, eine Bank, für die Europa weit entfernt ist, könnte es vielleicht noch eine Weile so weiter gehen; die Firma macht robuste, zuverlässige Kleider, robuste, zuverlässige Männer kaufen sie, und andere Marken lassen durch die zuverlässig produzieren. Leider war die Bank nicht zuverlässig und robust, sondern selbst wiederum amerikanisch, labil und von der Finanzkrise gebeutelt: Ausgerechnet der marode Autofinanzierer GMAC gab das Geld, und strich nun den Kredit, nachdem, wie kolportiert wurde, die Rechte an der Firma als Sicherheit bei ihm lagen. GMAC selbst ist auch wiederum im Besitz von Fonds und Banken, die etwas klamm sein sollen, und so schliesst sich hier der grosse Kreis der Weltwirtschaft über dem kleinen Kreis der Provinz.
Denn der Insolvenzverwalter lässt nun durchblicken, dass von einer Fortführung des Betriebes kaum die Rede sein kann. Unkommod, im höchsten Masse unkommod ist das für jene, die es bequem fanden, daheim Dinge zu kaufen, die von guter Qualität sind, und andernorts begehrt. Und auch nicht gerade erbaulich ist der Eindruck, dass man nicht jede Schlacht der Globalisierung gewinnen kann. Gemeinhin glaubt man in den Westvierteln, Gewinner der Entwicklung zu sein, aber nun muss man sich einen neuen Schneider suchen, oder besser, die Frau muss sich in der Wartezeit vor dem Schultor überlegen, wohin man nun geht. Vielleicht doch nach München? Man müsste den Sohn fragen, der hat dort studiert… Was soll das überhaupt, fragt man sich im Westviertel. Ein Elend. Auch wenn man sich über die Vergabe der Arbeiten ins Ausland bei gleichbleibenden Preisen ärgerte, auch wenn man sicher eine Alternative findet.
Hilflos steht man also vor den Entwicklungen, man wird nicht gefragt, und es findet sich auch keiner, der den Fortbestand des Goldenen Zeitalters in all seinen Lieferanten retten will. Es bleibt der Eindruck, dass andere entscheiden, dass man selbst nichts zu sagen hat, dass der Geschäftspanzer aus bestem italienischem Stoff, den man sich dort draussen zulegte, nicht undurchdringlich ist für die Folgen von Krisen und Globalisierung. Es hängt alles zusammen, und gerade weil man in den Westvierteln gewohnt ist, vom Limousinenkauf des chinesischen Ausbeuters zu profitieren, ist es um so schmerzlicher, wenn der gleiche Prozess nun einen selbst in der ansonsten ruhigen Lebensbahn betrifft. Es ist der viel zitierte Fortschritt, aber so hätte man sich ihn nicht gewünscht.
Und auch die Söhne, die nicht mehr ganz so dumm – und von der Figur her gaultiertauglich – wie früher, und nicht ganz so bequem wie die Väter sind, stellen sich so ihre Fragen: Ob sie in Verona, wo sie ihre Schuhe machen lassen, nicht vielleicht auch einen Schneider finden. Und wie gross der Vorrat sein soll, den sie jetzt noch kaufen, bevor es vorbei mit der Mittelklasse ist, und nur noch jene bleiben, die auch in China fertigen lassen, aber minderwertig und trotzdem zum gleichen Preis für den Endkunden. Es kann ja nicht jeder aussehen wie die Barackler, die heute Tätowierungen auf T-Shirts tragen, aber es muss auch Gründe geben, warum die einen es nicht überleben, und Billigkleidermärkte Industriegebiete erobern, vielleicht auch bald die Innenstädte, und damit trotzdem Gewinne machen. Man macht sich so seine Gedanken in der kleinen, dummen Stadt an der Donau. Das ist – bemerkenswert.
Begleitmusik: Bemerkenswert fand ich übrigens auch den Tonträger “Lava” mit Arien der neapolitischen Opers Seria des 18. Jahrhunderts. Die Sopranistin Simone Kermes – allein dafür hat sich die Wiedervereinigung gelohnt! – singt die Arien mit einer solchen Wucht und Stimmgewalt ein, dass ich nicht umhin kann, die CD trotz der billig wirkenden Plastikhülle und dem zum Reich des Sonybösen gehörenden Label vollstens, dringenst zu empfehlen. Kaufen Sie, kaufen Sie eine warme, gute Jacke aus feinem Stoff und einen offenen, roten Sportwagen, und drehen Sie voll auf, wenn Sie im Schneesturm einen gesperrten Pass hinaufjagen. Einmal wenigstens im Leben. Tun Sie es für mich verfluchte Seele, die ich morgen unter geschlossenem Verdeck im Regen nach Frankfurt muss.