Ist nicht Gold, was Goldes Wert hat?
Francisco Delicado, Lozana die Andalusierin
Da ist dieser kleine, aufgewickelte Draht. Nicht mal ein Pfennigteil, einfach eine winzige Feder, hergestellt in Japan Mitte der 90er Jahre. Wie wir gleich sehen werden, können mit so einer Feder, die praktisch wertlos ist, ein paar hundert, vielleicht sogar 1000 Euro in den fernen Osten gelangen. Dazu muss die Feder nur billig sein. Im unteren Bild schaut ein Draht neben A hervor – das ist diese kleine, billige, japanische Feder. Gewickelt ist sie um das Lager der Ratsche B, die in die Rotationsscheibe D einrasten sollte. Rastet sie ein, kann die Scheibe über die Ratsche mit einem Hebel weitergedrückt werden. Dadurch zieht sie an einem Draht, und der wiederum bewegt ein Schaltwerk an einem Rad. Aber eben nur, wenn Ratsche B in Scheibe D einrastet, weil Feder A Ratsche B hineindrückt. Dazu aber muss A in C stecken, einem kleinen Loch, in dessen Position die Feder gespannt ist. Die Feder jedoch ist nicht im Loch C, hat folglich auch keinen Druck, rastet nicht ein, weshalb die Rotationsscheibe nicht über die Ratsche mit dem Hebel gedrückt werden kann, das Schaltwerk bewegt sich auch nicht, weshalb das Fahrrad nicht schaltet.
Dann, sollte man meinen, tut man den Draht eben wieder in das Loch. Die einfachste Sache der Welt, so funktioniert das Kinderkriegen und die Impfung gegen Schweinegrippe. Das kleine Problem ist nur: Diesen Mechanismus sieht man nicht. Er ist versteckt im Inneren eines Bremsschalthebels, der Mitte der 90er Jahre zusammen mit dem Rad, an dem er befestigt ist, in der kleinen, dummen Stadt an der Donau an einen Mann verkauft wurde. Das Rad war nicht ganz billig, damals 1400 D-Mark (entspricht ca. 1500 Euro heute und vermutlich 6000 Dollar/8000 britische Peseten in einem Jahr), und stammt von einer recht bekannten und beliebten Firma namens Muddy Fox. Der Rahmen ist aus Aluminium und war für damalige Ansprüche ausgesprochen gut, die Komponenten dagegen waren in etwa Mittelklasse. Es ist das, was man kauft, wenn man nicht allzu wild im Gelände fährt, und ein solides, robustes Rad für die Stadt braucht, und am Wochenende über kleine, enge Wege durch die idyllischen Donauauen fahren will, die der Herrgott der kleinen Stadt zu den Weltmarktführern in Automobil- und Mordmaschinenbau obendrein gegeben hat. Kurz, es ist der moderne Nachfolger des guten, alten “deutschen Markenrades”, bis auf jene Feder.
Wer sich nicht wirklich mit Fahrradtechnik auskennt, sieht eigentlich nur einen kleinen Schalterkasten am Bremsgriff, in dem die Feder verborgen ist, und versteht die Welt nicht mehr. Was läge da nun näher, das zu tun, was Opa schon mit seinem deutschen Markenrad getan hat: Einfach zum Radhändler fahren und es reparieren lassen. Der Radhändler kannte seine Kunden, machte ein paar Griffe, und dann fuhr das deutsche Qualitätsrad wieder. Das müsste doch auch mit dem Bremsschaltgriff gehen, meint der Besitzer.
Also fährt er zu der grossen Halle vor der Stadt, die aus dem kleinen Laden entstand, bei dem er das Rad früher gekauft hat. Der alte Verkäufer ist nicht mehr da, statt dessen viele junge Leute, die so genauso in Technikmärkten und anderen Konsumtempeln herumstehen und keinerlei Radlschmutz an ihren Westen mit Firmenaufdruck haben. Dort wird er vorstellig. Aber niemand macht zwei, drei Griffe wie bei Opa, und das Rad läuft wieder. Leider, wird ihm erklärt, müsste man dazu den Hebel aufmachen und untersuchen. Es könnte sehr vieles sein, das Ding besteht aus Dutzenden von Einzelteilen, da sind lauter Federn (sic!) und Hebelchen drin, es könnte alles mögliche sein. Das könnte man machen, aber dazu müsste man erst mal einen Termin vereinbaren, in zwei Wochen, denn gerade ist alles voll, und selbst dann könne man nicht garantieren, dass es reparabel ist. Denn wenn da drin etwas gebrochen ist, bekommt man keine Ersatzteile dafür – das Ding ist völlig veraltet und nicht mehr im Handel.
Normalerweise tausche man ohnehin das ganze Teil aus, das wäre auch nicht teurer als eine Reparatur, und dann hätte man wenigstens die Garantie, dass es auch funktioniere. Wobei man natürlich nicht nur den einen Bremsschaltgriff austauschen würde, sondern beide, denn sie werden zusammen geliefert, und wenn da ein anderer Bremsschaltgriff ist, stimmt natürlich auch die Ergonomie rechts und links nicht mehr.
Ach so, da ist noch eine andere Sache. Die Herstellerfirma verbaut nicht nur andere Griffe, sondern auch andere Bremsen. Das heisst, mit den neuen Bremsgriffen kann man die alten Bremsen nicht mehr so betätigen, wie es gedacht war. Bremsen funktionieren heute ganz anders. Ja, das sei bedauerlich, aber die Plastikkappen der alten Bremsen sind auch schon gebrochen, und neue Bremsbeläge würde man ohnehin brauchen. An den Bremsen jedenfalls sollte man nicht sparen.
Der Kunde fragt sich vielleicht, wie es beim alten Fachhändler gewesen wäre, ob man da auch alles hätte austauschen müssen, und gäbe es ihn noch, dann wäre seine Antwort vielleicht gewsesen: Owa nah, dös is nua de gloane Fehda, des Blastigdingal an da Bräms möchd goa nixn aus, und de Brämsbeleg schmiagln ma a wengal owe, do feid se nix. Wanns des Radl a wengal bessa butzt hedn, wahs no pfenningguad, es woa jo a guade Fiama, ned woah. So aber macht der junge Herr gleich mal einen Kostenvoranschlag, und schickt den Käufer weiter zur Reparatur.
Dort zeigt sich dann, dass der junge Herr nicht nur unfähig war, das Federproblem mit dem Draht und dem Loch zu erkennen, er weiss auch nichts von den weiteren Fortgängen unserer Zivilisation. Denn die Schaltung, die muss auch weg. Das ist nämlich noch eine alte 21-Gangschaltung. Heute jedoch hat man hinten zwei Ritzel mehr, das macht dann 27 Gänge. Das muss sein, denn die neuen Bremsschalthebel harmonieren nicht mit dem alten Schaltwerk; wie schon bei der Bremse sind die Zugverhältnisse anders. Auch muss die Kette dünner sein. Und die neuen 9 Zahnkränze passen auch nicht auf die alte Nabe. Also braucht man die Nabe auch neu. Obwohl, bei der alten Felge würde sich das Aus- und Einspeichen auch nicht lohnen, eigentlich ist ein altes Hinterrad fällig.
Opa fuhr mit seinem deutschen Markenrad in den 50er und 60er Jahren in die Arbeit, in den 70er und 80er fast jeden Tag zu seinem Schrebergarten, und als er in den 90er Jahren starb, hätte das deutsche Markenrad immer noch klaglos seinen Dienst getan, wenn man es nicht auf den Sperrmüll geworfen und sich, angesichts des Nachlasses, ein tolles Mountainbike, solide, zuverlässig und haltbar, gekauft hätte. Es funktioniert ja auch noch wirklich gut, bis eben auf die kleine, japanische Feder, die aus dem Loch gerutscht ist. Nun aber werden die Kosten hoch und höher, man braucht Ersatzteile und Einbau, Justierung und Anpassung, mit Arbeitszeit kommt man locker auf ein paar hundert Euro, und das bei einem 15 Jahr alten Rad, na, ob sich das noch lohnt – 200 Euro mehr, und man bekommt schon ein stark reduziertes Rad der Saison 2009. Ja, das ist so, Sommerschlussverkauf, inzwischen wechselt das alles jährlich, neue Farben, neue Komponenten, jetzt auch voll gefedert, immer up to date, die technische Entwicklung schreitet voran, bald dann auch mit 30 Gängen, und schauen Sie mal, da haben wir sogar Scheibenbremsen wie beim Motorrad, die sind viel sicherer und besser gerade im Regen. Dazu: Ein Jahr Werkstattservice gratis!
So kam es denn auch, und der Kunde brachte sein altes Rad auf den Flohmarkt. Wo er es mir für 20 Euro verkaufte. Die Geschichte gab es obendrein umsonst, inklusive des Unverständnisses, wieso das bei Opa jahrzehntelang ging und heute alles so kaputt und teuer ist. Ein paar Meter weiter fand ich einen exzellenten Sattel mit echtem Leder für 2 Euro – der alte Sattel mit Plastikdecke war verschlissen – und der Rest waren zwei Stunden Arbeit an einem regnerischen Montag. Und, natürlich, das Einfügen der kleinen, japanischen Feder in das Loch.
Die Bilanz: Ich habe ein Gästerad für meine Wohnung am Tegernsee. Der Kunde hat in 15 Jahren einen Totalverlust erlitten, und jetzt noch mal 700 Euro ausgegeben. Vielleicht 500 davon gehen nach Fernost, womit ein Techniker bezahlt wird, der noch kleinere Federn für noch kleinere Kompenenten entwickelt, die noch leicher laufen, wenn man sie im Geschäft schaltet; Komponenten, für die es in den Zeiten teurer Lagerhaltungskosten ein Jahr später schon keine Ersatzteile mehr gibt, weshalb es diesmal keine 15 Jahre mehr dauern muss, um einem Kunden sagen zu können: Bedaure, da müssen wir alles austauschen, oder Sie kaufen gleich ein Neues. So wird aus der kleinen, billigen Feder, wenn sie tausende Male aus dem Loch springt, ein grosser Hebel der Geldverschiebung und des Entreichens jener, die damit nicht umgehen können; ein Antrieb für die Industriestädte Chinas, und wenn man nachdenkt, ist die ganze Welt heute voll mit diesen kleinen, japanischen Federn: Winzige, wertlose Bauteile, an denen es hakt, und die nicht ausgetauscht werden können. Verarmung jedenfalls hat zwei Seiten: Weniger verdienen und mehr ausgeben. Weniger Verdienen ist eine Folge des globalen Wettbewerbs, und mehr Ausgeben eine Folge der kleinen Federn, die durch Überproduktion und Werteverfall des globalen Wettbewerbs gefördert werden. Ein Selbstläufer.
Und ich? Die Stützen der Gesellschaft? Nun, ich habe die Feder wieder ins Loch gesteckt, den globalen Wettbewerb und seinen Irrsinn ausgetrickst, und ein paar hundert Euro gespart. Und so kommt es, dass die einen im nächsten Sommer mit sirrenden Speichen an den Tegernsee radeln, und die anderen in der Garage das 2009er Modell und seine kleine, unsichtbare, japanische Feder verfluchen. Ich übrigens fahre auf Feldwegen ein selbst aufgebautes Rocky Mountain Vertex aus Kanada mit seltenen, aber unzerstörbaren Komponenten von Mavic aus Frankreich und Campagnolo aus Italien, und ein Rabeneick von 1952. Deutsche Wertarbeit.