Ich aber sträube mich gegen Beschränkung, ich will alles oder nichts.
Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos
Jetzt ist es wieder schön.
Vor ein paar Tagen jedoch war das ganze Tegernseer Tal schon eingeschneit, und die Gipfel hat der Winter für die nächsten Monate fest im Griff. Es kommt die Zeit, da man besser mit dem Rodel als mit dem Auto unterwegs ist, man fährt auch nicht mehr so einfach nach Italien, denn die Tage sind kurz, und heulende Schneestürme sind nur schön, wenn sie draussen vor der Panoramascheibe sind und ihren Zorn an Touristen auslassen, die etwas unternehmen müssen, weil sie nun mal hier gebucht haben, und sich auf dem Heilklimaweg Lungenentzündung holen. Echte Tegernseer legen jetzt die Vorräte an und warten, Tee trinkend und kerzenbeschienen, auf bessere Tage. Allerdings, der Vorrat ist wichtig. Und so werden die letzten schönen Tage benutzt, um Bestellungen aufzunehmen, und das Gewünschte eingeschweisst und haltbar jenseits des Alpenhauptkammes zu besorgen. Man könnte natürlich auch zu Dallmayr.
Aber in Österreich am Achensee ist das Benzin billig, und es ist nun mal nicht das Gleiche, ob der Speck aus einer mit japanischen Touristen überfüllten Münchner Halle kommt, oder wirklich von einem kleinen Metzger unter Sterzings Lauben. Ausserdem ist die Strecke nach Italien ungleich schöner, wenn man oberhalb des Wipptals über die kleinen Dörfer von Volders über Ampass und Pfons nach Matrei fährt, immer im Sonnenlicht des goldenen Herbstes unter diesem schon italienisch blauen Himmel.
Beschaulich geht es zu auf dieser alten Salzstrasse, es sind nur noch wenige Touristen unterwegs, und so gleitet man zwischen urwüchsigen Dörfen und enge Kurven wie durch einen bunten Heimatfilm der 50er Jahre, wie schon die Grosstanten mit ihren Kommerzienräten und den Ponton-Benzen, windet sich hinauf zur Passhöhe, erreicht Italien, beeilt sich, den hässlichen Brennerort mit seinen Outlets hinter sich zu lassen, und ist nach ein paar Minuten im malerischen Sterzing, wo sich bei der bekannten Adresse der Speck meterhoch türmt.
Nicht ganz so lang hält der halbe Meter Apfelstrudel, den man sich traditionell ein paar Häuser weiter besorgt, von den Steinpilzravioli mal ganz abgesehen, hier aber auch noch ein paar Liter Öl und, ach ja, Hüttenschuhe sind auch nicht verkehrt, wenn die kalten Tage kommen. Der wintermüde Braunbär könnte nicht behäbiger durch die Gassen tappen, als man selbst unter der Last der Einkäufe, zwischen den liebevoll restaurierten Häusern, die diesen kleinen Ort gleich hinter der Grenze so einzigartig machen.
Es ist immer noch wie früher, in der Zeit der Kindheit, als es das alles in Deutschland kaum gab, diesem Land der Margarine und des Sonnenblumenöls, des Kochschinkens und des geschmacksneutralen Käses aus Holland, den angeblich eine Frau brachte, deren Name in Bayern so verführerisch wie ein Schluck Rheinwasser erschien. Seit Jahrzehnten reist die Familie über Sterzing, und nie hat sie bei der Ausreise vergessen, dort noch einmal kräftig einzukaufen. Es könnte, wie gesagt, fast ein Heimatfilm sein, oder eine dieser Super-8-Filmrollen, die in einem Schrank dem Vergessen entgegenschlummern, mit der Aufschrift “Mit Kindern und Tante Gertrud in Sterzing, 1973”. Solange man nicht auf die Idee kommt, über eine kleine Seitenstrasse die Beute zum Auto zu schleppen.
Dort nämlich steht ein alter, vor sich hinrottender Schuppen, und daneben ein Akt der architektonischen Selbstverwirklichung, der einen aus allen sentimentalen Erinnerungen herausprügelt. Kein Mensch käme je auf die Idee, eine Shopping Mall als Gegenstand einer touristischen Fahrt zu begreifen, und hier, angesichts der Versatzstücke der Funktionsarchitektur, versteht man auch sofort, warum. Den ganzen Tag sah man nur Berge, Wiesen, das Gold der Blätter und das blitzende Weiss auf den Bergspitzen, man sah schmiedeiserne Kreuze in Pfons und urtümliche Bauernhäuser; die Moderne, da konnte man sich auf die Strasse konzentrieren und Gas geben, man gibt Kohlendioxid für Beton, aber hier nun steht die Moderne direkt neben dem Urwüchsigen, und ist durch den direkten Vergleich, durch den Gegensatz nicht zu ignorieren.
Ahahah, hätten die Grosstanten gesagt und den Kopf geschüttelt, die Arme in die Hüften gestemmt. Also wirklich, hätten sie gesagt. Der Stall ist nicht gepflegt, und die schmiedeisernen Gitter in der dicken Mauer rosten vor sich hin, und dennoch erkennt man an der kleinen Zier, dass auch dieses Nebengebäude dem Erbauer nicht gleichgültig war. Trostlos, wirklich trostlos ist dagegen das Edelstahlgeländer über der Marmorplatte – man gönnt sich auch sonst einiges – vor dem Plastikfenster, was durch die marginale Bepflanzung noch verdeutlicht wird. Hier ist Bergland. An den alten Bauernhöfen ergiessen sich Geranienkaskaden an den Balkonen hinunter. Hier jedoch. Also wirklich.
Man hätte auch in früherer Zeit Holz glatt und eben machen können, schliesslich ist das hier Bergland, wo man virtuos aus Holz grosse Kunst für Kirchen und Klöster formte; aber damals hatte man wohl auch ein gewisses Verständnis für die Schönheit von Struktur, Alterung und Arbeitsspuren. Dinge werden nicht hässlich, wenn sie nicht gestylt sind. Hässlich werden sie erst, wenn man ausser Styling keine Begriffe von Schönheit mehr hat.
Eine Schande, murmelt man, und im Geiste murmeln es die verstorbenen Grosstanten alle mit, die früher hier in Sommerfrische waren, es schlägt aufs Gemüt, diese Arroganz des Neuen, dieser gestalterische Hochmut, der einen silberglänzend anschreit, statt eine Geschichte zu erzählen, die zu besitzen diese Moderne überhaupt nicht angelegt und berechnet ist. Ahahah. Dieses Haus sagt viel aus über das, was ist. Man kann nicht umhin, es sich anzuhören. Mögen muss man es nicht.
Bin ich so früh vergreist, denkt man vielleicht, und wundert sich, dass man einen unerbittlichen Zorn von grosstantlicher Dimension in sich aufsteigen fühlt, diese erbärmliche Schachtel mit ihrer entworfenen, geplanten Struktur rechts, die es wagt, sich an die durch Jahrhunderte enstandene Struktur anzulehnen. Diese Haltung gegenüber dem Neuen ist ebenso instinktiv wie leider auch unangemessen, denn natürlich ist einem der Geist der Erbauer des neuen Hauses kulturgeschichtlich sehr viel näher als der Aberglaube des Bauern, der den Stadl errichten liess, Zwangsheiraten befürwortete und Impfungen als Eingriff des Menschen in die göttliche Ordnung betrachtete.
Aber wie kann man etwas schätzen, das einem zum Abschied noch seinen fetten Doppelauspuff entgegenreckt, ganz im Stil eines Opel Manta? Wie kann man die Angemessenheit des Stalls nicht schätzen, wenn daneben so in die intakte Bausubstanz hineinge – brandgefährlich sind solche Gedanken, man kennt das aus der eigenen Familie und aus den Clans der Freunde, aus dieser Einstellung erwächst ein Konservativismus, der nicht nur ein wenig doppelmoralisch ist. Denn natürlich wohnen nur die wenigsten, in ihrer Sissiherrlichkeit beleidigten alten Tanten in solchen Häusern mit niedrigen Decken und feuchten Wänden. Längst sind sie in die Vorstädte gezogen, mit allen Annehmlichkeiten modernen, pflegeleichten Wohnens, mit Butzenscheibenimitat und Fussbodenheizung zum dekorativen Kachelofen.
Zudem macht der antimoderne Reflex auch anfällig für jene Kräfte, die jene Gefühle für sich ausnutzen, und deren Befriedigung versprechen. Ein paar Häuser weiter sind obige Schandflecke im Entstehen, auch hier wieder zwischen historischen Häusern. Man würde meinen, dass konservative Parteien etwas dagegen unternehmen würden, dass sie die kleine, heile Welt der Grosstanten schützen vor dem Einbruch der kalten Welt aus Stahl und Beton und ihrem Fensterrammbock in den öffentlichen Raum. Es sind diese Gebäude und Gewaltakte gegen das Althergekommene, die Angehörige althergekommener Familien zu verbitterten Wählern konservativer Parteien machen, zu den Propagandisten der Meinung, dass früher alles besser war. Es macht empfänglich für starke Männer, denn man braucht jemanden, der die Welt so bewahrt, wie man sie aus den nostalgischen Photoalben kennt, ohne den Ärger mit den Scheidungen und dem Finanzamt, ohne die Pille und mit einer Erziehung, den den Namen noch verdient. Man möchte keine Festungen dieser neuen Zeit im ureigensten Lebensbereich, in der Speckversorgungsbasis Sterzing, worin sich jener Zeitgeist austobt, an den man sich nicht gewöhnen wird, weil man es in dieser Klasse generell nicht nötig hat, sich an etwas zu gewöhnen. Deshalb wählt man auch die Schwarzen. Nur: In dem Monstrum dort oben residiert die Kette Athesia mit einem Buchladen. Athesia gehört nicht einem koksenden Hedge Fonds Manager in Amerika oder einem deutschen Grosshändler, sondern dem Bistum Brixen und einer sehr konservativen Familie aus Südtirol.
Vielleicht ist es ganz gut, dass die alten Tanten das doch nicht mehr erleben mussten; vielleicht stirbt man auch, um nicht sehen zu müssen, wie die eigene Welt vor einem selbst in den Boden sinkt, trotz aller Nörgeleien und Abwehrkäpfe, die man verliert, weil sich auf Dauer keine Zeit der Moderne und ihren Verlockungen widersetzen kann, egal wie sehr man die Arme in die Hüften stellt und das Missfallen öffentlich äussert. Was bleibt, sind auf dem Heimweg in Tirol die Plakate der Regierung, in denen “Meine Heimat” mit Bildern idyllischer Trachten und familiären Wunschbildern propagiert wird. Auf Werbetafeln, die Städte verschandeln und nächste Woche Putzmitteln anpreisen, oder auch Fertighäuser oder neue Türen aus Edelstahl.
Es ist sehr kalt geworden. Kalt und finster.