Wenn man in das Haus des Glücks durch die Pforte des Jubels eintritt, so wird man durch die des Wehklagens wieder hinaustreten.
Baltasar Gracián, Kunst der Weltklugheit
Gehört man zu jenem Personenkreis, der einst in seiner Funktion als Erben noch einmal das Vermögen und den Reichtum der Wirtschaftswunderjahre in sich vereinen wird, ohne dafür mehr getan zu haben, als geboren zu werden, etwas Sinnloses zu studieren und dann in einem Beruf zu arbeiten, der ohne Anstrengung ein gesichertes Auskommen garantiert; hat man schon ein paar Immobilien und das Gefühl, dass, so die Weltrevolution dank der Untätigkeit der Massen angesichts ihrer Enteignung durch Banken und von ihnen gewählter, beihelfender Politik doch nicht kommt, einem eigentlich in finanzieller Hinsicht nichts passieren kann; und weiss man aus Erfahrung vom Stapeln hoher Holzstösse und der gelegentlichen Tiefflüge auf dem Rodel durch dichte Bergbewaldung, weil man rüstigen Rentnern in der Kurve ausweichen musste, dass man mit einer bemerkenswert robusten Gesundheit ausgestattet ist, kurz, ist man vom Schicksal in jeder Hinsicht mehr als nur ein wenig begünstigt und lebt zudem an einem Ort, wo sich andere wegen der Umverteilung den Urlaub nicht mehr leisten können, dann könnte man ruhig und gelassen in die zweite Lebenshälfte gehen. Mittlebenskrisen gelten in meinen Kreisen als typische Erkrankung von Neureichen, die die erste Hälfte ihres Daseins dem Geld hinterher gerannt sind, und in der zweiten Hälfte bemerken, dass es ihnen nicht reicht, woraufhin sie eine Praktikantin sexuell belästigen und im Erfolgsfall die Scheidung einreichen. Es gibt dafür in meinen Kreisen einfach keinen rationalen Grund. Ausser einen. Und der heisst Rottach-Egern.
Rottach, bekannt aus Heimatfilm und Serienfernsehen, ist so eine Art Kampen ohne typische Sylter Exzesse. Teuer, klein, Frau Schickedanz wohnte hier und viele andere, die auf keinen Fall in die Medien möchten. Rottach gelingt der Spagat, gleichermassen hässlich, reich, ja fast ordinär zu sein, und trotzdem diskret zu bleiben. Rottacher sind nicht wirklich jung, im Schnitt sicher 20 Jahre älter als der Autor dieser Plauderei hier, der sich im besten Mittlebenskrisenalter befindet, das er ohne grössere Verwerfungen und Sorgen erreicht hat, und nun damit rechnet, dass es auch so bleiben wird. Für ihn ist Rottach ein Blick in den Abgrund.
Denn ist man ohne Sorgen, macht man sich wenig Gedanken über die Zukunft; man neigt eher dazu, die sorglose Vergangenheit als Quell des angenehmen Lebens zu glorifizieren. Alles war gut, alles ist gut, und warum es nicht so bleiben wird, versteht man erst, wenn man in Rottach zu Besuch ist. Rottach ist das, was kommt, wenn man diese gerade Lebenslinie durchzieht, mit seinen Schnauzbartträgern, die sich die Nase an Läden mit roten Aallederjacken plattdrücken, den Pelzträgerinnen, den diversen Insignien des Reichtums, die mit angetrengtester Lässigkeit getragen werden. Weil…
Weil, man sucht nach Antworten, und die Ergebnisse mögen nicht gefallen, weil vielleicht nichts anderes mehr bleibt? Man fühlt sich plötzlich etwas unbehaglich im Stoff von Loro Piana, man fröstelt unter dem Seidenschal, sind das nicht auch diese Insignien, mit denen man Zugehörigkeit und Status zeigt. Mokant lächelt man über die aufgearbeiteten Trophäenfrauen und die Bezahler an ihrer Seite, aber wie waren die vor 20 Jahren? Vielleicht wie man selbst? Wo eigentlich gehen all die strahlenden jungen Menschen hin, wenn sie älter geworden sind? Die eigene zukünftige Vergangenheit, sie liegt vielleicht, mit etwas Pech, unter Falten, zu viel Herrenkosmetik und zu neuen Lederfreizeitjacken verschüttet. Vermutlich ist es nicht schlimm, später einmal so zu sein, vermutlich ist es immer noch besser als das, was weniger Begünstigte im Alter erleben. Aber die Vorstellung, die eigene Zukunft könnte auch so aussehen, das wären die nächsten Stationen auf dem Weg zur Hölle der Altersdemenz, die kann nicht gefallen.
Dabei sind das schon die positiven Rollenbilder. Sie sind gepflegt und immer noch ohne vermeidbare Sorgen, sie kennen keine Nöte und Verpflichtungen, und vermutlich müssten sie auch nicht an jenem grauen Novembertag durch Rottach und seine bundesweiten Äquivalente stapfen. Sie tun es, man selbst tut es, es hat etwas von Vorhölle und der Unausweichlichkeit eines Schicksals, das es nicht mehr gut meint, sondern nur noch das tut, wozu es vertraglich verpflichtet ist, und sich nicht verantwortlich fühlt, den Wandel vom Hier und Jetzt zu der allgegenwärtigen Zukunft zu verhindern. Rottach ist die unerbittliche, gnadenlose Fortschreibung dieses Lebens. Deshalb wohnen sie auch alle hier. Essen sternengekrönte Mischküche obskurer Provinienz in modernen Hotels, kleiden sich nach internationalem Vorbild, lesen Zeitschriften und wissen vermutlich auch um die Popkultur.
Sie sind nicht die alten Nazis, die hier kompanieweise vom Mördergeneral bis zum Schreibtischschlächter auf den Friedhöfen liegen. Diese Generation ist längst tot und ausgestorben, die Nachfolger haben ihren Frieden mit der Gegenwart gemacht, fuhren mit ihren Kindern auf Konzerte von den Rolling Stones, und können den Text von Nutbush City Limits auswendig aufsagen. Da sind keine ideologischen Gräben, die einen wohlig davon trennen, keine sicheren Mauern, die es abgrenzen, nur 10 Kilometer am See entlang, das ist alles, was trennt, es reicht sogar, wenn man zum Sandstrand am Paraplue fährt – von dort aus kann man mit dem Ruderboot zum Hotel Überfahrt gebracht werden, 1,50 Euro kostet die Strecke auf dem Nachen eines lederbehosten Charon zum Malerwinkel, wo gerade sehr unmalerisch umgebaut wird, um noch mehr Menschen noch feiner zu versorgen, denn es werden mehr kommen, mit den Erben der nächsten Jahre.
Die griechische Mythologie erzählt vom Eingang in die Unterwelt der Schatten, und dieser Ort ist im November das moderne Äquivalent, mit dem feinen Unterschied, dass die Bewohner das absolut nicht so sehen, wenn die S-Klassen durch die verkehrsberuhigten Strassen gleiten. Auch fühlen sie sich nicht im Mindesten tot, die Leichen sind erst in den Kliniken und Seniorenresidenzen weiter hinten bei Kreuth, hier wird noch gelebt, geprasst, und das Offenbach’sche Höllenballett, will mir scheinen, hört auf Bigbands, hat Seeblick und Kerzenschein beim Essen über fünf Gänge.
Zu dumm, dass man diesem Weg nicht entgeht, wenn man einen Ferrari erwirbt, sondern im Gegenteil den Weg beschreitet. All die unvernünftigen Dinge des Konsums, die sonst getan werden, um einem leeren Dasein in Richtung einer ebenso leeren, aber frisch bepinselten Alternative zu entgehen, bringen einen nur wieder hierher, oder noch schlimmer, zu jenen Leuten, die sich nicht schämen, ihr reiches Elend auf spanischen Fernsehinseln im TV auszubreiten. Andere Fluchtmöglichkeiten sind nicht vorgesehen, wenn man einmal von jenem tristen Pfad absieht, der im Polizeibericht viel Raum für die Beschreibung von Schmuck an den Wasserleichen nach sich zieht. Am besten ist die traditionelle Lösung, die seit jeher in diesen Kreisen für gute Ehen gesorgt hat, man macht sich einfach keine Gedanken und wartet, bis das Wetter besser wird, und Rottach nicht mehr wie die Topdestination für Untote aussieht.
In zwanzig Jahren kann viel passieren, Depressionen sind nur Einbildung ohne jeden Grund, und mit etwas Glück merkt man die schleichende Verrottachung nicht, bis das dann endlich das grosse und angemessene Vergessen einsetzt.