From Warsaw to Rome, I’ll wait out of time
Yello, The rhythm divine
Es ist eine Besonderheit der bürgerlichen Moral, dass man von ihr als Sohn zwar stets und immer ermahnt wird, zielstrebig, sparsam, korrekt zu sein und strebsam sich bemühen sollte, um später auf dem Karriereweg erhört zu werden; sie verlangt von einem, da man noch in den Seevierteln aufwächst (Teil 1 dieser kleinen Serie: Klassenbildung), vollkommene Unterordnung unter Beschlüsse, welche Fahrschule angemessen ist, und welche Tanzpartnerin sich schickt – und gleichzeitig stellt einem die gleiche bürgerliche Moral, wenn sie denn ausreichend grossbürgerlich ist, zur Belohnung während des Studiums alle Mittel zur Verfügung, die man braucht, um schnell den Hörsaal zu erreichen, sich nicht schmutzig zu kleiden, in einer guten Gegend zu wohnen (Teil 2 dieser kleinen Serie: Gentrifizierung)- und all das ist bestens dazu angetan, es auch gleich massiv und umfassend zu missbrauchen.
Man kann da eigentlich nichts dafür. Schuld sind immer die anderen, die einen dazu bringen. Man zieht nicht allein in die nächstliegende Metropole. Andere waren schon früher da. In meinem Fall war das H., Sohn des Zahnarztes B.. Die B.s wohnten in einem guten Viertel, und H. kannte ich seit dem 5. Lebensjahr. Der athletische Sportler machte ein Jahr vor mir Abitur, entging mit Attest eines väterlichen Freundes problemlos dem Wehrdienst und war schon in München, als ich dort ankam. Dort hatte H. ein paar andere junge Leute kennengelernt, einen Sohn eines Flughafenchefs etwa und den Abkömmling eines Entwicklungsleiters bei einem Autohersteller. Und alle zusammen hatten nur begrenzt Lust auf das Studium von Betriebswirtschaftslehre oder Zahnmedizin.
Also mieteten sie nächteweise ein Lokal an einem See in einem Park, das tagsüber äusserst schwiegerelterntauglich war, und somit nicht weiter negativ auffiel, wenn man etwa daheim auf die Frage nach der Abendgestaltung diesen Ort erwähnte. Die bürgerliche Moral muss sich etwas reichlich seriöses vorgestellt haben, wenn die Söhne in Abendgarderobe nach München in ein Haus im Park fuhren, aber sie irrte sich: Weder war das Parkcafe in München damals ein Cafe im Park, noch das andere Haus am See des Nachts ein Restaurant. Draussen waren lange Schlangen, aber ich kannte H. und ging einfach vorbei, und war drinnen. Die anderen blieben draussen. So einfach war das damals. Niemand dachte darüber nach. Warum auch. Es waren kleine Lokale, da konnten nur wenige hinein. Wie die Seeviertel daheim – auch dort war nicht unbegrenzt Platz.
Damals – Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre – gab es noch kein verschultes Studium, und niemand hatte es eilig. Warum auch, die Eltern hatten einen Weg nach oben genommen, und irgendwie würde es später schon mal weiter gehen. Niemand hatte wirklich Lust, schon mit Mitte 20 zum Nachfolger aufgebaut zu werden. Das alles würde noch früh genug kommen, das Elend der Kohl’schen Republik lag im Osten, und im Süden würde es einfach so weiter gehen. Sagten die Eltern, brüllten wir uns in den Cafes zu, wenn wir mal nicht über Gaultier sprachen, oder über die ausgefalleneren Regionen der Getränkekarte, oder über diese seltsamen Leute, die wirklich ihre Scheine machten, weil sie es wohl nötig hatten.
Aber die kannte man nur aus dem Studium. Alle, die man von daheim kannte, mit Ausnahme der ins katholische Wohnheim eingewiesenen Apothekertochter, waren eher in Clubs anzutreffen, in denen man nur solche Leute traf. Und so, wie H. mich in den Kreis der Berufspartymacher einschleuste, holte ich den Arztsohn R. nach, der sich dann von einem Kollegen seiner Mutter einen Fiat Uno Turbo borgte und die K. mitnahm, die sich perfekt einpasste. Es war wie daheim, nur sehr viel später und lauter, aber gesellschaftlich ohne Fehl, Tadel und Leute, denen man nicht vorgestellt werden sollte.
Und so standen wir eines Montags Morgens alle in unseren eigenen Viertel mit dem eigenen Umfeld nicht mehr am See, aber immerhin im Wasser, die Boxen dröhnten gegen die Schliessung des Lokals an, und wir tanzten im Brunnen davor, gegenüber der Strasse, auf der andere in die Arbeit fuhren. Komische Leute, fanden wir. Arbeiten, wozu? Sicher irgendwann. Später. Irgendwas würde dann schon kommen. Es kam dann leider die demokratische und klassengesellschaftlich anspruchslose Bewegung Techno aus Berlin, es kamen riesige Hallen, man wurde ohne Anzug und Blick auf die Schuhe eingelassen, und mit den Massen ging die Epoche der Berufspartymacher schneller zu Ende, als man es erwartet hätte. Man hielt sich noch im BaBaLu, und dann war es vorbei mit den Orten, in denen man unter sich blieb.
Natürlich würde es der bürgerlichen Moral gefallen, wenn ihre komplette Missachtung unter gleichzeitiger Bewahrung ihrer sozialen Strukturen eine Strafe nach sich gezogen hätte, wie etwa AIDS, Tod durch eine Überdosis, ein alkoholisierter Unfall. Aber ausser gefälschten Attesten zur Befreiung von einem Staatsexamen, das aufflog, weil deren Antragstellerinnen nach einer Flasche Champagner am Starnberger See beim Einparken einen Porsche beschädigten, wüsste ich auf die Schnelle kein schmerzvolles Drama des nach München umgezogenen Seeviertels zu berichten. Die bürgerliche Moral wirkte vielleicht doch so stark, dass man sich nicht komplett aufgab, und stets den Spagat zwischen dem Nachtleben in München und den Heimatbesuchen schaffte. Angesichts der klassenkonformen, horrend hohen Kleiderrechnungen hätte man sich als Student keine Kokainsucht mehr leisten können.
Was bleibt, ist der schmerzliche Stich, der später, sehr viel später kommt. 2001 stand ich wieder im schwarzen Anzug im Parkcafe, vor dessen Türen früher eben jenes Plebs hätte warten müssen, das nun Einlass fand: Jungunternehmer der New Economy, die keine Apanage hatten und statt dessen auf Kosten eines fördernden Konsortiums aus Banken und Ministerien hart arbeiten und hart feiern wollten – und so schrecklich konnte kein Buffet sein, dass sie es nicht verspeisten. Im Stehen. Früher hätte es das nicht gegeben, früher wären die draussen geblieben mit ihren schlecht sitzenden Spiesseranzügen, und man hätte im Brunnen ihre Arbeitseinstellung verlacht. 2002 waren sie schon wieder am Ende, und einige Freunde standen vor der Entscheidung, den ein oder anderen Restmüll dieser Angeberwirtschaft zu kaufen und zu sanieren. Die Gespräche fand bei einem befreundeten Risikokapitalgeber statt, der ganz oben über der Münchner Freiheit residierte. Leise, diskrete Gespräche mit Kaffeekannen und Milchglas. 1990 war an dieser Stelle der “Wolkenkratzer”, jener Tanzpalast, der die Draussenbleiber zwang, ihre Schande vor dem Eingang zum Lift auf der Leopoldstrasse öffentlich zur Schau zu stellen, als abschreckendes Beispiel, wie es jenen ergeht, die sich Zugang zu Sphären erhoffen, in die sie nicht passen.
So sieht man die Orte wieder. Die Vergehen waren nicht schlimm, der Schmerz ist nicht gross. Man fragt, was aus den Berufspartymachern wurde? Ärzte mit Söhnen. Manager. Unternehmer. Notare. Sehr viele Anwältinnen, die jungen Partnerinnen Münchner Kanzleien lesen sich wie die Einladungsliste für jenen Abend, als Mick Hucknall im BaBaLu auflegte. So gesehen hätten sich die Eltern der Apothekertochter, die ihnen natürlich beruflich nachfolgte, ihr und uns die Wegsperrung in das Heim auch sparen können – schlimmstenfalls hätte es vielleicht eine Abtreibung gegeben, oder eine etwas verfrühte Zwangsheirat, aber das kam in den besten Deutschbankierskreisen vor. Allesamt wurden höchst bürgerliche Existenzen, wohnhaft in besten Lagen. Ordentliche Leute, die nie mehr in einem Brunnen am Montag Morgen mit dem Finger auf ihresgleichen zeigen würden, wenn sie zur Arbeit fahren, aber durchaus überlegen, ob sie ihre Kinder zum Studieren nicht besser in kleine Eliteinstitute fern der Metropolen schicken.
Begleitmusik: Yello, One Second. Eine Platte, eine Epoche, ein Versprechen von 1987, das nicht eingelöst wurde.