Die Wahrheit ist ein Ding, hart und beschwerlich
Und in höchstem Masse feuergefährlich.
Brenn damit nieder, was da morsch ist
Und wenn’s dein eigner Bruder Schorsch ist.
Kurt Tucholsky
Mit der Wahrheit, jene Grosstugend, die einem kleinbürgerlich allenthalben nahegelegt wird, ist es in besseren Kreisen ja so eine Sache: Für das Diskriminieren anderer mag sie noch taugen, aber zur Selbstbeschreibung ist sie nur mittelprächtig geeignet. Man nehme nur einmal die unausrottbare Überzeugung jener Kreise, ihr Verhalten würde niederen Schichten als Orientierungshilfe für ein besseres Dasein dienen. Das mag noch – durch Nihilisten mit Höllenmaschinen und gespitzten Feilen begrenzt – für Zeiten gegolten haben, in denen der Besuch einer Gräfin von Hohenems in der Zeitung vermeldet wurde. Heute jedoch müsste man, wollte man ehrlich sein, Werbung, TV und Gelber Presse den Vortritt lassen. An Stelle der Dienstmädchenliteratur von Hedwig Courths-Mahler sind Castingshows und Quizsendungen getreten, aber für deren Aufstieg muss man sich nicht mehr dem für Unkundige ausserordentlich lästigen Diktat der Bürgerlichkeit unterwerfen. Die Bürgerlichkeit wurde von den Promiseiten verdrängt, sie findet öffentlich nicht mehr statt, also ist man auch kein Vorbild mehr. So einfach, so ehrlich – so eines Existenzgrundes beraubt.
Entwickelt sich eine Gesellschaft weiter, hat dieser Fortschritt je nach Schicht aber unterschiedliche Geschwindigkeiten oder gar auseinanderstrebende Richtungen, kommt der Moment, da alte Wahrheiten auch mit feinster Ignoranz nicht mehr zutreffen. Geht der Wandel in einer Schicht nur sehr langsam vor sich, gibt es über Jahrhunderte gelebte Traditionslinien des auf Status bedachten Selbstbewusstseins, während andere von der Rechtlosigkeit der Kaiserzeit bis zur verwahllosten Medienanarchie katapultiert wurden, entstehen im besten Falle verschiedene, sich im Alltag durchaus widersprechende Wahrheiten, die als Klassenkonflikte in Erscheinung treten. Im schlimmsten Fall aber wäre es an der Zeit, die alten Wahrheiten abzuschaffen.
Das allerdings, wie sich gerade in den weihnachtlichen Wochen zeigt, wäre momentan noch unhöflich. Egal wie agnostisch die Kinder sind, an Weihnachten haben sie sich mehr oder weniger den kurzfristig wieder eingeführten Wahrheiten der Kirche freiwillig unterzuordnen. Es mag falsch, gelogen und geheuchelt sein – aber es ist höflich. Lügen werden um so bereitwilliger akzeptiert, je grösser die mit der Wahrheit einhergehende Unhöflichkeit wäre.
Für diese spezielle Form der Lüge zugunsten der Systemerhaltung gibt es eine Belohnung, das schöne Wort “Selbstverleugnung”. Man ist damit, tröstlich zu wissen, in bester Gesellschaft aller Klassengesellschaften; es singen davon die Troubadure in Aquitanien, und es schreibt darüber Baldassare Castiglione in seinem Hofmann jener Renaissance, die zwar Giftmord nicht unbedingt als unfein ablehnte, aber sehr wohl jene Lügen verurteilte, die nicht mehr mit “Haltung” zu vereinbaren waren. Das prominenteste Beispiel für diese Selbstaufgabe war Kaiser Franz-Joseph I., der bei allen gesellschaftlichen Anlässen stereotyp zu sagen pflegte: “Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.” Als er sich anderweitig über die Oper an der Wiener Ringstrasse äusserte, brachte sich deren Architekt Eduard van der Nüll um.
Von da an: Nicht gut gebratene Gans bei der Einladung von Frau v. B. – es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut. Missratener Sohn der Familie v. D. versucht sich als Maler – es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut. Zurecht bald vergessenes Singspiel – es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut. Drittklassiges Kurkonzert in Bad Ischl – es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut. Den Rest kann man vielleicht mit Betonungen wahlweise auf sehr, schön und gefreut machen. Und eventuell einem Gähnen. Aber die Form ist gewahrt. Und gilt bis heute.
Haltung, Selbstverleugnung, Form wahren, höflich sein, aber auch Diskretion, Verständnis zeigen und Nachsicht haben, vergeben und sich entschuldigen, all diese Kommunikationsstrategien wuseln wie ein Schwarm hungriger Piranhas an der dummen, fetten Kuh der Wahrheit herum und fressen das Fleisch der Ehrlichkeit, bis nur noch das Gerippe des Anstandes übrig ist. Das geht nur so lange gut, bis der Anstand alleine nicht mehr trägt. Früher erschoss man sich oder floh wenigstens mit dem Liebhaber weit weg an die Riviera, heute dagegen gibt es diese vollkommen unvermutet auftauchenden Beschwernisse, von denen ja keiner eine Ahnung haben konnte: Ehen, deren heile Fassade in wenigen Tagen weggebröckelt ist, Scheidungskriege, psychische Probleme, eine zum Burnout führende Kombination aus bürgerlicher Pflichterfüllung und überfordernder Arbeit, alles Situationen, in denen die herkömmlichen Abmachungen keine Gültigkeit mehr haben, selbst wenn ihre Einhaltung von allen Seiten nur Lippenbekenntnisse verlangte. Lippenbekenntnisse, wie man merkt, aus denen durch die neuen Realitäten Lebenslügen werden.
Unschön ist das gerade in Zeiten, deren nichtbürgerliche Wahrheiten derartige Prozesse beschleunigen – wie leicht etwa wird ausgebrannten Mitarbeitern gekündigt, wie schnell hat man Zweit- und Drittliebhaber, wie schlimm sind die Verluste bei der Hausversteigerung. Insofern stellt sich natürlich die Frage, ob man dieser schlimmen Zeit, die unsere alten Wahrheitsvermeidungen und doppelmoralischen Ansichten nicht mehr belohnt, nicht vermehrt mit klaren und stabilen, weil faustdicken Lügen antworten sollte: Die gerade angelaufene Erfindung eines neuen Berliner Bürgertums der neoliberal-konservativen Ära, die Fortschreibung einer Generation Firmenkombi, konservativ im Raffen und Ausgrenzen, und liberal beim Partnertausch und beim Kunstinvestment, könnte so eine Lösung für das Unwahrhaftigkeitsdilemma sein. Dieser Ansatz würde ohne die Lippenbekenntnisse der Altvorderen mehr Doppelmoral und gleichzeitig mehr Ehrlichkeit bieten. Theoretisch ist das natürlich nicht möglich, aber angesichts der auseinanderlaufenden Realiäten bietet es die praktische Spurbreite zwischen der Karriere als Lobbyist, dem globalisierten Kindergarten für die Patchworkkinder, der DVD-Sammlung und den Bildern nackter Japanerinnen von Lumas über dem Esstisch.
Ob das aber noch sehr schön ist, und uns sehr freuen kann? Seit Jahrhunderten ist die Lüge in all ihren Erscheinungsformen ein, wenn nicht gar der zentrale Wesenskern der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Anstands, auf dem sich ihre Überlegenheit gründet. Aufklärung war nicht nur die Abschaffung von kirchlichen Lügen, sondern eben auch die Einigung auf einen bürgerlichen Lügenkodex, der jedem seine eigene Wahrheit zugestanden hat. Es ist die Lüge, die den Charme und die Nachsicht geschaffen hat, das kleine moralische Zipperlein, das einen daran erinnerte, ab und an eine Dosis Fortschritt zu schlucken und auch dem anderen die Lüge zuzugestehen. Mit noch mehr modernen Wahrheiten, die zu allem Überfluss auch noch gelebt werden, fürchte ich, würde man nur den bessergesellschaftlichen Grundkonsens aufbrechen, der bislang allen höflichen Menschen eine unehrliche, aber wirklich sehr schöne und sehr erfreuende Heimat bot.