Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Zwang, Vernunft, Versorgung und Arrangement

So ein Unmensch, empört sich Tante Euphemia beim Gedanken an den Muselmanen, der seine Tochter einem anderen verspricht, ohne sie überhaupt zu fragen. Alle am Tisch nicken, auch die jungen Nichten, die es einfacher haben werden und frei wählen können, solange der gemahl nur mindestens Arzt, Notar und Abkömmling einer Familie ist, die mindestens schon 100 Jahre hier wohnt und frei von Flüchtlingen, Preussen und anderen Leuten zu sein hat, die man ja nun wirklich nicht in der Verwandtschaft haben müsste - also, der Dr. S. ist ja ganz reizend, den sollte man mal zum Tee einladen. Es gibt keine Zwangsheiraten bei uns. Das wäre viel zu primitiv.

Nicht einmal ein unausgelotetes Geheimnis steckt in diesem Weib!
Djuna Barnes, Ladies Almanach

 

Vorausbemerkung: Vor knapp einem Jahr bekam ich eine Anfrage, ob ich mir vorstellen könnte, für diese Zeitung ein Blog zu schreiben; das Thema könnte ich frei vorschlagen, solange es nur bald sei. Ich schrieb in einer Stunde eine Seite über die Klassengesellschaft zusammen, fuhr nach Frankfurt, und 1 Jahr und 16.400 Kommentare später macht es den Anschein, als wäre dieses Projekt gar nicht so arg schlecht gelaufen: Ich schreibe etwas, behaupte, die bessere Gesellschaft würde es auch so sehen, die Leserschaft stimmt zu und bezweifelt das, und zwei, drei Tage später kommt der nächste Beitrag. Man plaudert, man ist von rechts bis links mehr oder weniger nett zueinander, man unterhält sich. Aber man fragt nicht.

Blogs sind etwas extrem Modernes, wahre Höllenmaschinen in den Händen publizistischer Nihilisten wie Sie und ich,  aber ich persönlich bin auch Romantiker und bedaure das Aussterben von zwei anderen Rubriken ganz besonders: Die Kur- und Urlauberliste der eintreffenden, abreisenden und verstorbenen Persönlichkeiten, und die Fragentante. “Liebe Frau Euphemia, meine Tochter wurde jüngst in einer dunklen Einfahrt mit einem Knaben” – Sie verstehen. Zum Jubiläum, finde ich, habe ich erst einmal genug erzählt. Vielleicht haben Sie ja auch Fragen. Die können Sie mehr oder weniger anonym in diesen elektronischen Briefkasten namens formspring.me legen (wenn der gerade geht):

https://www.formspring.me/donalphonso

Ich werde mir die besten Fragen zu mir, zum Benehmen, zur Kultur, was auch immer raussuchen und sie nach meinem Londonurlaub mindestens so ehrlich wie ein Journalist beantworten. Sie bekommen milchglasklare Ehrlichkeiten auf Ihr Wissensbedürfnis zum Jubiläum, vielleicht 20 Stück? Nur keine Scheu bitteschön.

Bild zu:  Zwang, Vernunft, Versorgung und Arrangement

Mit den Zwangsheiraten ist das ja so eine Sache: Es ist noch keine 90 Jahre her, da ging der Liebhaber der Cousine meiner Grossmutter mit ihr hinaus in die Donauauen, wo sie sich zusammen auf eine Bank setzten, ungefähr dort, wo heute die Ärztevillen stehen. Sie schrieben einen Brief, anschliessend erschoss er sie und dann sich selbst, weil beide Eltern die Ehe zwischen den beiden untersagt hatten, wie das damals eben so üblich war. Es war noch nicht mal eine Frage der – nicht vorhandenen –  Standesunterschiede, einfach nur Arroganz, Vorurteil, andere Planungen der Eltern, und auf der anderen Seite Ausweglosigkeit durch Schwangerschaft und Schande. Das kam in den besten Familien vor. Danach erst wurden die Regeln, für meine Grossmutter etwa, deutlich gelockert, aber generell finde ich, das aufgeklärte, fortschrittliche Abendland sollte besser nicht so laut über ander Hinterwäldler Eheschliessungsgewohnheiten herziehen – und  das auch ohne Berücksichtigung der Frauen, die sich manche aus Internetkatalogen in Osteuropa oder Fernasien beschaffen.

Die letzte Zwangsheirat unter gleichen, deren Zeuge ich wurde, passierte kurz nach meinem Abitur, als ein Mitschüler auf der ersten Party im Zivildienst eine Krankenschwester beschlief, natürlich ohne Vorsichtsmassnahmen. Weil ihr Vater von einem Dorf kam und dort noch Anstand herrschte, blieb meinem Bekannten angesichts diverser Repressionsmassnahmen gar nichts anderes übrig, als sie zu heiraten. Inzwischen ist er wie sein Vater Arzt, und alles ist bestens gelaufen. Zwangsehen können gut ausgehen.

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Und während meine Familie, wie so viele andere bessere Namen der Stadt auch, durch Zeugungsverweigerung lustig dem Aussterben in Dritt- und Viertsportwagen entgegenfährt, gibt es im Westviertel meiner Eltern auch noch andere Familien, die es mit der hier üblichen Religion sehr ernst nehmen. Man sagt, es handle sich um glückliche Ehen, aber tatsächlich haben die Töchter dieser Familie, allesamt in meinem Alter, allesamt Männer wie sie selbst gefunden, und wieder Kinder wie sie selbst gezeugt. Nun werden sie in einem Alter, da bei unsereins in der Gesellschaft langsam das Abfinden mit anderen Lebenswegen einkehrt, gerade Grossmutter. Mit etwas über 40. Keine Zwangsehen, das passt einfach, da stimmt alles, jedes Gesetz wird da eingehalten, göttlich wie weltlich.

“Arrangierte Ehen”, denn darum handelt es sich letztlich, wenn Familienverbände so eng verknüpft sind, dass dem Nachwuchs wenig Alternativen bleiben und die Partner aus einem recht ähnlichen Umfeld kommen, “arrangierte Ehen” klingt doch gleich sehr viel netter als Zwangsehen, die natürlich nur im islamischen Leben stattfinden. Auf das Arrangement kommt es an; serviert man beispielsweise hausgemachten Apfelstrudel, wir kein Gast ablehnen können, steckt man das Kind in die richtige Schule und macht hier und da etwas Druck, sorgt man für ein paar Dünkel, etwas Besseres zu sein, dann renkt sich das alles schon zu aller Zufriedenheit ein, dann ist die Auswahlmöglichkeit begrenzt, dann gibt es nur genehme Männer.

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Was es, zugegeben, wirklich nicht mehr gibt, sind elterliche Absprachen, welches Kind einmal wen heiraten soll. Das war früher vielleicht noch nötig, als die Städte klein und die Auswahl in der besseren Gesellschaft sehr begrenzt war, als man schnell zugreifen musste zu Zeiten, als Kinder das noch nicht verstanden. In Zeiten wie den unseren jedoch, da der Aufstieg vielen gelungen ist, lässt man den Kindern in aller Regel die Wahl, solange die Wahl aus dem grossen Angebot der richtigen gesellschaftlichen Ebene getroffen wird. Es ist ein Kompromiss aus Zwang und Freiheit, der nur sinnvoll ist: Echte Zwangsehen sind in Zeiten der einfachen Scheidung schnell getrennt, mit vielen Kosten und Komplikationen, die dem Wunsch nach Sozialprestige und Vermögenserhalt entgegen stehen. Die zugelassene Liebe der Ehepartner ist, so gesehen, eine Sicherung von Vermögen und Nachkommenschaft in einer Zeit, da ansonsten nichts mehr sicher ist. Kindern wird das Umfeld zur Partnersuche arrangiert, die Eltern arrangieren sich dagegen mit der Gegenwart.

Natürlich würde man das nicht so deutlich ausdrücken; natürlich sind diese Strategien mitunter nur Hinweise, vorausschauendes elterliches Handeln, kaum fühlbare Drähte zur Fernsteuerung, unsichtbare Hände, Aber letztlich kenne ich so gut wie keine Ehe, die über grössere Standesunterschiede hinweg geschlossen wurde. Dass die Bruchstellen solcher Beziehungen sich dann oft an der Langeweile, der Kultur oder kleinen, liebestötenden Marotten entzünden, ist auch nicht so tragisch: Denn wenn es zur Scheidung kommt, ist die nächste Beziehung oft genug – die Vernunftheirat.

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Und Vernunftheiraten, deren Kerngedanke die gegenseitige Versorgung mit Steuervorteilen, Geld, Essen, jemandem zum Reden und vielleicht sogar ehelich-horizontalen Pflichten ist, diese in bester bürgerlich-merkantilistischer Tradition stehende Zweckgemeinschaft ist dann vielleicht doch etwas, weshalb der Bürger des Westens auf den Araber herabschauen darf: Weil es der Beweis ist, dass man alle Vorzüge der Zwangsheirat haben kann, ohne deren Nachteile erdulden zu müssen. Der Opportunismus der Eltern wurde durch den Opportunismus der Kinder ersetzt, und ich muss gestehen, dass die entsprechenden Angebote gar nicht so schlecht sind: Jene Unverheirateten und frisch Geschiedenen, die ich in ihren Suchbemühungen kenne, sind allesamt sehr freundliche, gepflegte und zuvorkommende Wesen, die im Rahmen der Anforderungen perfekte Leistungen versprechen.

Natürlich kommt dabei die Romantik erheblich zu kurz, aber dafür garantiert die Vernunft bei der Partnerwahl Rationalismus, Standesbewusstsein und einen genauen Blick auf die Zukunftsaussichten des Partners, es wird auf langfristige Chancen geachtet und nicht auf diesen in jenem Alter ohnehin irrelevanten Sex. Natürlich bliebe als Alternative die Hopse, die alte Mehrfachgeschiedene mit Männerverschleiss und Alkoholproblem, so zumindest wird das berichtet in Familientreffen, in denen die Vernunftehe gelobt wird. Aber für derartiges Benehmen mit Entwicklungspotenzial zur verrückten alten Tante in Nizza sind die klassischen, besseren Kreise des Westens in aller Regel einfach nicht der richtige Humus. Am Ende siegt meistens die zwingende Logik der Vernunft, und die macht das wenigstens sanfter als der 2. Bürgermeister von Vierharting am See, dessen Frau noch so unheimlich nett war, als man sich erbot, deren gestresstes Töchterchen zwei Wochen zur Kur nach Meran zu begleiten.