Es gab keine wirklichen Freundschaften, die Gespräche drehten sich stets um nichtssagende Dinge.
Paolo Volponi, Ich, der Unterzeichnete
Das ist nicht mein Flieger.
Mein Flieger kam erst gar nicht in die Nähe von München, von wo er mich nach London bringen sollte. Er blieb in London wegen Schneefall und Eis, und so griff ich zum Mobiltelefon und machte die Anrufe, die man in solchen Situationen eben macht. Meiner Frau Mama sagen, dass sie natürlich wie immer recht hatte und der Flug nicht ging. Der in London erfolgreich gelandeten Copilotin sagen, dass es ein paar Optionen gibt, und alle sind hässlich. Der guten Freundin eine Kurznachricht schreiben, dass ihre Ratschläge für London sicher famos gewesen wären, aber noch famoser wäre es jetzt, sie in einem Cafe zu treffen. Was man eben so tut, wenn man in einer Schlange mit 200 nicht transportablen Personen steht und darauf wartet, dass die eine dafür abgestellte Dame sich für einen Zeit nimmt.
Ich war damit nicht allein; hinter mir beratschlagten zwei junge Frauen, ob sie jemanden in München kannten und ob man diese Bekanntschaften vielleicht dazu bringen könnte, sich mit ihnen zu beschäftigen. Jeder rief irgendwo an, jeder hoffte im telefon einen Ausweg zu finden, alle hatten etwas mit anderen fern dieses Elends zu besprechen. Die Frustation war allgegenwärtig wie auch der Versuch, ihr über das Mobiltelefon zu entgehen – Stansted vielleicht? Eine andere Linie nach Heathrow? Wie die Zeit bis um 10 Uhr Abends totschlagen, und was tun, wenn der Flieger dann schon wieder ausfällt? Nun, ich ging zum Bus, um an den Tegernsee zum Rodeln zu gelangen.
Im Spätherbst 2002 war ich bei einer Firmenpräsentation anwesend. Der Gründer dieser Firma, die sich dem M-Commerce verschrieben hatte, trug einen Namen, der an einen der grossen Lebensmittelskandale der Republik erinnerte, und wirkte noch sympathischer. Es gibt manchmal diese Söhne, in denen eine ganze Familiengeschichte kondensiert, und getrieben von dieser Geschichte, auch gross und wichtig zu werden, was mitunter etwas unbeholfen wirkt, wenn die Geschichte, nicht aber die richtigen Anlagen da sind. Die Gründung nun basierte auf der Idee, Menschen über ihre Mobiltelefone und via SMS etwas zu verkaufen, was im Kern bedeutete, dass die Käufer das Produkt nicht sahen, es auch nicht vergleichen konnten, und obendrein neben dem Kaufpreis auch für die reichlich komplexe Abwicklung des Kaufes zahlten. Die jungen Kunden wollten M-Commerce, sie wollten am Mobiltelefon bedient werden, sie seien darüber dauernd erreichbar, und es sei die ominöse, junge, kaufkräftige Zielgruppe.
Wäre man so unhöflich gewesen, das veraltete Prinzip der Vernunft an die Geschäftspläne anzulegen, hätte man sagen müssen, es gehe darum, den Kunden überteuerte Produkte ohne Informationen zu schlechten Konditionen ohne jeden Service anzubieten, um damit hohe Gewinne zu erzielen. Tatsächlich war ich auch unhöflich genug, diese meine altbackenen Bedenken anzubringen und zu fragen, warum das jemand tun sollte. Der Gründer lächelte und empfahl mir, doch einmal mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren. Dort würde ich sehen, wie junge Menschen, vom Umfeld und der Warterei gelangweilt, stets ihre Mobilapparate in der Hand hätten und froh um jede Ablenkung seien. “Shoppen”, er sagte wirklich “shoppen”, sei so eine Ablenkung, man könnte der Langeweile entgehen und den Umstehenden zeigen, wie viele SMS man bekäme. Und unter jungen Menschen sei Konsumfreude, nach aussen getragen, auch ein Prestigegewinn.
Menschen, die das besser als ich verstanden, gaben viel Geld, es gab teure Technik und einen holprigen Start, eine üppige Werbekampagne und schon bald die Einsicht, dass man da der jungen, konsumfreudigen Zielgruppe vielleicht doch zu viel zugemutet hatte – jedenfalls erwies sich die Geschäftsidee als ähnlich faul wie manches, von dem im Lebensmittelskandal der Familie des Gründers die Rede war. Was aber bleibt, ist der Umstand, dass der Griff zu diesen Dingern stets dann kommt, wenn man mit der Realität gerade wenig bis nichts anfangen kann. In der Schlange am Flughafen. In der U-Bahn voll mit Leuten, die seltsam wirken und es vielleicht nicht sind, aber das Licht macht alle hässlich. Im Stau. Beim Warten. Beim Zeittotschlagen. Aber eigentlich nie, wenn man etwas Besseres zu tun hat.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum Medien so viel über dieses Thema und die Endgeräte berichten, auch wenn nicht gerade ihr Flug nach London ausfällt: Weil es Themen sind, die für die Unterprivilegierten vor und hinter der Druckerei tatsächlich relevant sind. Weil sich damit die Hoffnung verbindet, diese Dinge könnten das Elend ihrer Existenz, die man sich wohl bildungsfern und eher buchfrei vorstellen muss, in Zukunft noch besser übertünchen. Könnten noch bessere virtuelle Realitäten in Lebenskonzepte schicken, die von Warten, Abfertigen, Stocken, Hängenlassen, Verzögerungen und riesigen Mengen toter, sinnloser Zeit gefüllt sind. Die Moderne der Unterprivilegierten ist geprägt von einer beruflich vorgegebenen Hektik, zersplitterter Zeit, parallelen Handlungssträngen und Freiräumen, die zu kurz sind, um etwas Sinnvolles zu machen. Kein Wunder, wenn sich Firmen anschicken, diese Zeitlöcher mit Geräten und Inhalten und sogenannten “Apps” zu füllen, die in ihrer allein auf dem Neuesten aufbauenden Konzeption nur den Verlust langer Linien, Geschichte, Erinnerung und besserer Alternativen widerspiegeln. Das Elend der zertrümmerten Tage, die nicht mehr gut oder schlecht, sondern nur noch vollgestopft und stressig sind, wird mit einem angeblich schicken “Echtzeit-Internet” überzuckert, mit Gerätschaften, die angeblich Prestige versprechen, und der Zusage, dass man damit immer auf der Höhe der Zeit ist.
Würde man diesen Leuten aber Alternativen geben, ein gutes Essen etwa, ein kluges Gespräch, eine Wanderung am See, eine erfreuliche Liebschaft, die sich unvermutet jenseits der gesellschaftlich akzeptierten Formen ergibt, die Fähigkeit, nicht warten zu müssen, sondern auf die Schnelle nach Verona fahren zu können, oder auch nur eine banale Rodeltour auf dem Berg vor der Terrasse, würde man ihnen also das Leben der Privilegierten anbieten, die sich ihre Zeit nicht dergestalt zerstören lassen müssen – ein Mobiltelefon, sicher, hat man, falls der Sunbeam liegen bleibt, falls man sich beim Aufstieg das Knie verrenkt, zur Sicherheit, vielleicht für eine Verabredung, Erreichbarkeit ist ja nicht schlecht. Aber niemand würde beim Essen andere anrufen, das Gerät im Konzert einschalten, oder zwischen dem dritten und vierten Knopf der Bluse schauen, was eigentlich andere gerade bei Twitter, dem neuen Lieblingsspielzeug der Unerfüllten, äussern.
Es gibt bei diesem “Twitter” eine Frage, die das System einem stellt: “Was machst Du gerade?” Darauf gibt es eine gute Antwort: “Das geht Sie nichts an.” Tatsächlich ist das Gute Leben, das Angenehme im Kern so angelegt, dass man für dergleichen Zeitfresser weder Anlass noch Bedarf oder gar Zeit hat. Es ist schon schlimm genug, ab und an in der Zeitfalle zu stecken und für einen Startup-Gründer vorhersehbar zu sein, schlimmer aber wäre es, tatsächlich in einer Realität zu leben, die dauernd Ergänzung und Verbesserung von aussen braucht: Das Leben fern aller Vorzüge, weshalb das Mobiltelefon kein Diener im Notfall mehr ist, sondern ein unverzichtbarer und deshalb auch kostenpflichtiger Helfer, die Normalität besser ertragen zu können. Ich denke, man kann “unterprivilegiert” wirklich so definieren: So wenig Leben zu haben, dass man glaubt, der Kauf eines neuen Mobiltelefons würde an diesem erbärmlichen Schicksal etwas verbessern.