Zwoa Breedl, a gführiga Schnää, Juchhää, dös is hoid mei hechsde Idää.
(Trad.)
Als ich gerade laufen konnte, brachten mich meine Eltern zu meinem Onkel, seines Zeichen Direktor eines berüchtigten Pistensaugymnasiums in den bayerischen Alpen, stellten mich auf Ski an den Rand eines Hügels und gaben mir einen Schubs. A Guada hoids aus und um an Schlechdn is ned schod, sagt man in Bayern. Ich fuhr den Hang hinunter, ging wieder hinauf, fuhr wieder hinunter, und die Familie sah, dass ich nach ihrer Art geschlagen war. Alle waren zufrieden, und meine Eltern luden mich dann des öfteren bei meinem Onkel ab. Ich lernte alles, was sie wissen durften: Stemmpflug und Wedeln, Schuss und Anstellen am Lift. Und alles, was sie nie erfahren durften, aber mein Onkel war ein Wilder, und deshalb lernte ich auch Springen, Waldschneisen, Tiefschnee, abseits der Piste, Buckelpisten, und idealerweise steiler Wald mit Tiefschnee, Sprunghügeln, und wenn die nicht dabei waren, tat es auch eine in den Hang gebaute Hütte. Wo Schnee war, fuhr ich, und wo kein Schnee war, sprang ich drüber. Oder rein. Ganz erstaunlich, was Kinder so alles überleben. Ab Dezember bis Ostern war ich dauernd in den Bergen, und es war wunderbar: Zwei Bretter, Schnee, der Berg, ich.
Das hier ist die von einem gemeinen Kriechpreussen verstopfte Strasse nach Christlum, dem nächsten grösseren Skigebiet vom Tegernsee aus. Als ich klein war, sind wir dort oft an den Wochenenden gewesen. Zwei Bretter, Schnee, Berg, ich. Um zu verstehen, was Christlum 30 Jahre später ist, reicht es, auf den folgenden Link zu klicken und die Boxen GANZ LAUT aufzudrehen. Das ist Christlum und Skifahren heute: Ein oder zwei hochmoderne Kunststoffsportgeräte, Menschen in Plastiksäcken, Musik, Gaudi, Apresski gleich nach dem Frühstück, Beschneiungsanlagen, Cocktails, Massenparty, der pure Wahnsinn, Malle im Winter, laut, derb, geschmacklos, Massenabfertigung mit omnipräsentem Handygebimmel von allen Freunden, die auch kommen, überplanierte Pisten, Carver, Snowboarder in Ghettotracht. Skifahren war früher Volkssport, aber Christlum ist nicht mal mehr gewöhnlich – es ist vulgär. Und sieht in der Realität von gestern Nachmittag so aus:
Da oben, in den Wolken, ist der grössere Teil der Skigebiets. Trotzdem ist es voll, es ist Saison, man hat die teuren Karte bezahlt und muss das ausnutzen, die Uhr läuft mit, maximale Skiausbeute, sonst rentiert es sich nicht, auch wenn normalerweise kein Mensch bei diesem Wetter den ganzen Tag auf dem Berg wäre. Man fängt besser gar nicht zu rechnen an, was das kostet, die topmodische Saisonplastikkleidung, die neueste Skitechnologie alle paar Jahre, zwei Brettl reichen in den Zeiten der Carver natürlich nicht mehr, um am Ende in Christlum am Achensee eine zuplanierte Wiese zu ruinieren, oder in einer Bar mit ein paar hundert anderen Trinkern zu sitzen, beschallt zu werden, während draussen die Wolkensuppe trübt, und das ganze Elend würde man vielleicht mitbekommen, wäre da nicht dieser besoffene Carver, der einen mit seiner hohen Kurvengeschwindigkeit umnietet. Das ist das Salz der Alpenerde, das Blut, das vergossen wird, damit daraus der Tourismus mit all seinen strammen Skilehrern erwächst, mit den abrasierten Hängen und dem Lärm und den Näherinnen in Vietnam, die die hässlichen Plastiksäcke zusammenfügen, das globale Christlum. Ich persönlich hätte gern wieder zwei Bretter, den Schnee und den Berg und sonst nichts.
Oder auch zwei Kufen. Einen Berg habe ich direkt vor meiner Terrasse. Er ist von meiner Wohnung aus nur 500 Meter hoch, er ist zu flach für das Skifahren, aber er verfügt über einen breiten Forstweg, auf dem man Rodeln gehen kann. Und der Rodel kommt den einfachen Brettern recht nah. Die grundlegende Form des Rennrodels ist gut 120 Jahre alt, und hat sich seit jenen Tagen, da sich verrückte Briten bei Davos die Strassen hinunterstürzten, kaum mehr geändert. Der Rodel auf dem Bild ist 40 Jahre alt, aus Eschenholz gefertigt und solide wie ein gutes Möbelstück. Der Rennrodel ist am Ende seiner Evolution angekommen wie der Haifisch und der Alligator. Neue Rodel lassen sich etwas leichter lenken, sind etwas breiter, haben stabilere Bezüge anstelle der alten Sackleinengurte. Aber sie sind nicht besser, und sie nicht nicht schneller.
Man braucht beim Rodeln auch keine Plastiksäcke. Im Prinzip reicht die Kleidung, die man ohnehin schon hat, weil der italienische Roadster eine Heizung für sizilianische Verhältnisse und man selbst die Auffassung besitzt, das Stilfser Joch auch im Schneesturm offen zu befahren. Nachdem man beim Rodeln nicht stundenlang an Liftschlangen steht, oder in Sesselliften unbeweglich den Winden ausgeliefert ist, kann man auf all die moderne Funktionskleidung verzichten. Lange Unterwäsche, dicke Socken, Jeans, Pullover, Lederjacke und Bergschuhe reichen aus. Es wird einem schon warm, wenn man aufsteigt. Es gibt hier keinen Lift, keinen Strom und keine Beschallungsanlage. Nur einen Forstweg, der ab 5 Zentimeter Schnee befahrbar ist, einen Berg und einen Menschen, der hinauf muss. By fair means.
500 Höhenmeter sind wenig, wenn man mit dem Lift fährt. 500 Höhenmeter sind heftig, wenn man im Winter durch verschneite Almen und Wälder nach oben stapft. Der Berg schenkt einem nichts, er ist einfach da. Man kommt schnell ausser Atem, es ist sicher anstrengender, als einen Berg hinunter zu fahren. Dann hält man inne und geniesst den Blick hinab ins Tal. Oder man zählt die Schritte. Setzt sich Ziele: Bis zu diesem Baumstumpf, bis zu jenem Gatter. Es ist anstrengend, keine Frage. Es ist etwas anderes, als in einer Bar Strohrum zu trinken, eine Bedienung anzulallen oder Anton aus Tirol mitzugrölen. 500 Höhenmeter ziehen sind hin. Und der Rodel will wieder nach unten. Es dauert weit über eine Stunde. Fairness ist nicht unbedingt leicht, wenn der andere ein Berg ist.
Aber es macht die Menschen netter. Sie sind froh, vorsichtig, in aller Regel höflich, und sie grüssen einen. Ich denke, es ist die Schlange am Lift, die Skifahrer so egoistisch, so selbstfixiert macht. Jeder Rodler musste den Berg hoch, egal ob mit Kindern oder Hunden oder allein, alle haben sich diese Strecke nach oben gearbeitet, haben gekeucht und geschwitzt, und alle, die heruntersausen, wissen um die Anstrengungen derer, die aufsteigen. Man passt aufeinander auf, man beharrt nicht auf dem Weg, man bremst, man bleibt stehen, man ist fair. Der Forstweg ist nicht breit, die einen sind sehr schnell und die anderen sehr langsam, und trotzdem ist es nicht aggressiv wie auf den Pisten.
Und dann ist da noch der Bergwald. Ich gehe hier sicher hundert mal im Jahr hoch, das ist mein Verdauungsspaziergang, und der Wald ist immer anders. Aber nie ist er so zauberhaft schön, so unfassbar prächtig wie im Winter, wenn der Schnee auf ihm lastet. Es ist, als wäre man eingefügt in eine Grisaillemalerei der burgundischen Hofkunst, und obwohl die Farben fast völlig verschwunden sind, obwohl die ganze Welt nur noch aus Weiss, Grau und Blau besteht, wohnt diesem Winterwald all jene Magie inne, die keine Piste je haben wird. Die Geschwindigkeit des Anstiegs im Wald verrät diese Geheimnisse, die kein Liftinsasse je so erfahren wird.
Dann – bin ich oben angekommen. Manchmal gibt es ein unfassbar schönes Panorama über den See, manchmal, so wie heute, stehe ich in den Wolken, in denen alles verschwimmt. Ich komme wieder zu Atem, drehe den Rodel um, lege mich ganz flach hin und warte auf die Schwerkraft. “Es könnte schneller gehen”, denke ich mir erst, aber dann nimmt der Rodel Fahrt auf, die schrägen Kufen fliegen über den gefrorenen Untergrund, und wie schnell, wie verdammt schnell ich wirklich bin, merke ich erst, wenn die erste Serpentine kommt. Ich bin viele Pässe mit dem Roadster und dem Rennrad gefahren, ich kann das, und ich fahre nicht langsam – aber nichts fühlt sich so irrwitzig an wie das Knirschen, mit dem sich die Kufen eines Rennrodelns in einer engen Kurve gegen die Fliehkräfte stemmen, um dann auf Ideallinie in die nächste Gerade zu fegen. Es fühlt sich nach mindestens einem Jahr Führerscheinentzug an, so flach, wie man über das Eis schiesst und jede Rippe den Körper durchschüttelt. Der Berg knallt einen zu Tal, by fair means, und wenn man hier die asoziale Nummer an der Botanik versucht, die drüben in Christlum Motorsägen und Planierraupen übernehmen, dann trifft man die Botanik eben auch by fair means. Ich würde allerdings dazu raten, auf dem Waldweg zu bleiben. Es reicht ja, wenn die anderen das blutige Salz der Erde werden; als rodelnder Puderzucker dieser Erde hat man mehr davon.
Zwei Kufen, der Schnee, der einem in Zeiten der Klimakatastrophe bleibt, der Berg, ich. Ich verlasse den Berg so, wie ich ihn betreten habe, ich habe nichts zerstört oder beschädigt, ich war zwei Stunden in Bewegung und damit länger, als es ein Skifahrer in Christlum gemeinhin ist. Es kostet nichts, es belässt die Welt im Gleichgewicht, es ist ein respektvoller Umgang mit einer Natur, die einen im Winter jederzeit umbringen könnte. Ich war “Rodeln”, so nennt man das wegen des schnellen Abschlusses, aber es ist viel mehr: Der Wald, das Licht, das Atmen, die Anstrengung, die Einsamkeit, und der Berg, der heute nach dem Bad und der heissen Zitrone noch da ist, und in ein paar tausend Jahren, wenn wir den Planeten so ruiniert haben, dass die nächste Eiszeit kommt und uns alle, unsere Häuser, Gedanken, Pistenbullies, Computer und Medien lässig mit einem Gletscher zermalmt – zu hoch, um ihn zu überleben, aber nur ein zartes Lecken an den Flanken jenes Berges, vor dem es keine geschaffnen Wesen gab, nur ewige, und ewig wird er stehen.