Gleich darauf marschier’n die Lehrer, Machtverehrer, Hirnverheerer, für das Recht die deutsche Jugend zu erzieh’n zur Schlächtertugend.
Bert Brecht, Der anachronistische Zug
Es dauert etwas, bis die Mitarbeiter des Auktionshauses die Gemälde und Bücherschränke für den Transport bereitstellen. Ich habe noch etwas Zeit und streife durch die deutlich geleerten Ausstellungsäume. Vielleicht findet sich noch etwas im Nachverkauf; mitunter übersieht man eine Trouvaille, und im Transporter wäre auch noch etwas Platz für einen Sekretär. Aber Krisenzeiten sind gute Zeiten für Kunst, die Menschen besinnen sich auf langfristige Werte, und das meiste ist weg: Der hübsche Damenschreibtisch und die kleine Barockkommode, alle Putten und die Rokokoportraits. Was zurückgeblieben ist, sind ein paar hässliche Nackte auf Leinwand aus den 70er Jahren, die schon bei der Vorbesichtigung belächelt wurden, ein paar scheussliche Stilmöbel mit überzogenen Preisvorstellungen, und der vermutliche Nachlass eines alten Sammlers von Kunst der NS-Zeit. Keiner wollte das haben.
12 Jahre, von 1933 bis 1945, war man auf den Kulturbegriff der Nazis verpflichtet, wenn man in Deutschland Elite sein wollte. Von sehr wenigen, systemrelevanten Ausnahmen im Kulturbetrieb mal abgesehen – Hans Albers vielleicht, Heinz Rühmann, Hans Moser – hatte man es mit der Mitgliedschaft in der NSDAP in allen Lebensbereichen sehr viel leichter, zumal die Elite der Weimarer Republik weitgehend entmachtet, vertrieben oder ermordet wurde. Manche liefen zum neuen Regime über, andere machten in ihm schnell Karriere. 12 Jahre ist eine lange Zeit, und wenn die Kultur von oben gesteuert wird, bleibt vieles übrig, das an jene Zeiten erinnert. Wenn ich solche Bilder sehe, muss ich an die C. und ihre Familie denken.
Die C.war klein, etwas rundlich, dunkelhaarig und kam über ihre Freundin F. in unsere Kreise, die auch zur Schulzeit schon von jenen unsichtbaren Klassengrenzen umschlossen waren, die das Wohnen im richtigen Viertel so mit sich bringt. Die F. war gross, schlank, blond und hatte hohe Wangenknochen, und ihr Grossvater war ein weithin bekannter und allseits beliebter Kinderarzt, der ein hübsches Haus im richtigen Viertel hatte. Die C. dagegen wohnte mit ihren Eltern und Grosseltern in einer Villa inmitten eines anderen Viertels, das in den 30er Jahren entstanden war. Sehr viel Heimatschutzarchitektur mit hohen Giebeln, aber eben auch grosse, kastenartige Villen. Die C. war ausgesprochen nett und lustig, und viel zugänglicher als die kühle F.. Es gab eine Art Wettlauf um die C. und die Frage, wer mit ihr beim Ball einer bekannten Bank tanzen dürfte. Ein guter Freund ging siegreich daraus hervor, die C. nahm sich einen vollen Tag Zeit, um sich schön zu machen, und dann holten wir sie ab: Mein Freund, die F., ich, die als meine Partnerin fungierende Tochter des Bankenchefs, und ihre ältere Schwester am Steuer der S-Klasse ihres Vaters. C. wohnte im oberen Stockwerk, und wir, gut angezogen und voller Vorfreude, mussten zu ihr hinauf. Unten empfing uns ihr Grossvater.
Meine Grossmutter pflegte, wie es bei uns im Gegensatz zur offiziellen und reichlich verlogenen Versöhnungspropaganda mit den österreichstämmigen, nach Deutschland vertriebenen Böhmen üblich ist, zu sagen: “Er is zwoa a Flichdling, owa a nedda Mensch.” Dieses halb ab-, halb aufwertende Urteil fusste im Umstand, dass man als Hausbesitzer jener Nachkriegszeit verpflichtet werden konnte, solche Leute aufzunehmen, die sich in der Folge oft als unerfreulich herausstellten. Es war nötig, manche vom generellen Urteil auszunehmen. Der Grossvater von C. konnte als Flüchtling gelten und betätigte sich auch in den entsprechenden Verbänden, hatte aber als linientreuer Nazi schon während jener braunen Epoche nach Bayern geheiratet. Der Krieg aber war in seinem Hause nie zu Ende gegangen. In der Halle, in der wir empfangen wurden, schleppte in Öl auf Leinwand ein Landser einen anderen mit Kopfbinde durch ein Schlachtfeld, die Artillerie deckte den Russen mit Granaten ein, schwarze Reiter eroberten Lebensraum im Osten, und Portraits zeigten sehr arische Männer in Uniform und Frauen in Züchtig. Bei meinen Eltern hingen abstrakte Gemälde an den Wänden, der Vater meines Freundes sammelte asiatisch Kunst, der Bankchef zerrte seine Töchter durch Münchner Galerien, der Kinderarzt sammelte für Afrika – wir alle waren, vorsichtig gesagt, in einer uns sehr fremden Welt.
Aber so war das damals eben auch: Der katholische Religions- und Lateinlehrer meiner Schule erzählte begeistert von der Partisanenbekämpfung an der Ostfront, der Lehrer des Geschichte-LKs meinte, man dürfe die Waffen-SS nicht pauschal verurteilen, deren Uniform er auch getragen hatte, und die Tageszeitung der Stadt brachte die “zeitgeschichtlichen” – heute würde man sagen, revanchistischen – Erkenntnisse einer Gruppe von Honoratioren, mit deren Treiben sich der Verfassungsschutz beschäftigte. Sie hatten überlebt, sie hatten es auch nach den 12 Jahren wieder in Ämter geschafft, man hatte sie nicht an die Wände ihrer Villen gestellt, wo sie die Reliquien ihrer vergangenen Jugend sammelten und für die Freiheit eintraten, ihre Freiheit, das zu tun und weiterhin eine wichtige Rolle im Staat zu spielen. Nur gerüchteweise hörte man etwas von den verboteneren Dingen, von den nicht öffentlichen Räumen, wo es ausehen sollte “wie damals”. So stand er dann vor uns, der Grossvater von der kleinen, dunklen und lustigen C., dünn, korrekt und förmlich wie ein Standgerichtsurteil.
C. erklärte uns, die wir auf dem Rücksitz der S-Klasse zusammengequetscht und kleiderzerdrückend zum Ballsaal fuhren, dass ihr Opa einen Knall habe und man ihm diese Bilder nicht ausreden könnte. Wenn ich aber heute solche Bilder in den Katalogen finde, mit Titeln wie Gefechtspause oder Angriff oder Portrait eines Offiziers, dann denke ich an solche dünnen Männer wie ihn in den Auktionshäusern, wie sie die Hände heben und mitbieten, deutsche Soldaten kapitulieren bekanntlich nicht, um die Rente mussten sie nicht betteln, wie man das von Zwangsarbeitern erwartete, sie waren bald wieder oben und in den richtigen Parteien, also her mit dem arischen Mädel und dem schneidigen SS-Mann – aber es ist alles noch da. Niemand wollte das haben. Alles hängt noch hier im Nachverkauf, kein alter Mörder schlug zu und die jungen Neonazis haben einen anderen Unkulturbegriff, und vermutlich auch nicht so viel Geld. Jemand wird den Krempel wieder mit heim nehmen müssen, wo auch keiner erbaut ist, wenn ein Dorf brennt oder das Schlachtfeld raucht.
Ging man vor 15 Jahren noch auf Auktionen, war das anders; angeblich soll in Osteuropa kistenweise Nazikrempel vom SS-Dolch bis zur Kriegsberichterstatter-Leica gefälscht und dann hierzulande verkauft worden sein. Heute bleibt es liegen, egal ob SA-Mann aus Zinn oder Teilnehmer der grossdeutschen Kunstausstellungen; sinnlos und Zeugnisse der Verblendung wie die ausgebrannten deutschen Panzer im Kursker Bogen. Jeder von denen verliert sein letztes Stalingrad gegen den Tod, und kaum einer schafft es, die Enkel noch mal an die Front zu rufen, um das braune Erbe der alten Elite zu bewahren, zu kaufen oder auch nur aufzuhängen. Es war ein langer, zäher Kampf des grossen Schnitters gegen die Herrenmenschen, aber am Ende erfolgreicher als alle deutschen Aufarbeitungsversuche. Die Nazis sind tot. Und ihre Bilder haben keinen Markt mehr.
Die Tochter des Bankchefs hat natürlich einen anderen geheiratet, der Kinderarzt ist heute hochbetagt und immer noch engagiert, und die C. habe ich schon lang aus den Augen verloren. Aber ich weiss, dass der alte Mann mit den Bildern schon lange tot ist, und dort, wo die Villa der dreissiger Jahre stand, wurden inzwischen zwei pastellfarbene Toskanabunker errichtet. Vielleicht rotten die Bilder in einer Abstellkammer vor sich hin, vielleicht wurden sie auf den Müll geworfen. 12 Jahre lang musste man das haben, um Elite zu sein, ein paar Jahrzehnte hat es nicht allzu sehr geschadet, heute kann man es bestenfalls verstecken, oder zu Zwecken der geschichtlichen Aufklärung verwenden, wie es dann oft in den Katalogen geschrieben steht, in unserer Epoche, da man im Osten keinen Lebensraum mehr sieht, sondern allenfalls den Herkunftsort der profitabel arbeitenden Schwestern im Altersheim, die bald dem letzten alten Nazi das letzte Mal das Bett ausräumen werden, das Bett, das teuer bezahlen zu können mitsamt der Abschiebung der alten Leute heute das Privileg der Oberschicht ist.