Gottseliger Eifer ist das, was die blinde Welt für Unzucht hält!
Carl Felix v. Schlichtegroll, Ein Sadist im Priesterrock.
Es gibt eine ganze Reihe von Wortmeldungen zu jenen Fällen von sexuellen und gewalttätigen Übergriffen auf Minderjährige, die gerade nicht nur, aber oft aus Einrichtungen der katholischen Kirche bekannt werden. Um es im Stil einer Predigt zu sagen: Sunt homines, qui gerne das ganze Thema in einem runden Tisch beerdigen möchten, sunt homines, qui am Strafrecht drehen wollen, sunt homines, qui der katholischen Kirche ihre in einigen Fällen klar zur Vertuschung missbrauchten Status entreissen wollen – und es gibt so gut wie niemanden, der sich Gedanken macht, wie das eigentlich bei jenen restgläubigen Kreisen ankommt, die im Westviertel wohnen und sicher den vermögenderen Teil der Kirchensteuerzahler ausmachen. Einen runden Tisch kann man überleben, ein paar Sündenböcke kann man in die Wüstnis der Gerichtsbarkeit jagen, Entschuldigung kann man vielleicht sagen. Aber entlaufene Schafe kann man nicht so leicht einfangen. Wie schlimm also sind die Vorwürfe im Bewusstsein der besseren Gesellschaft, die in den südlichen Landesteilen sehr katholisch ist?
Zwei Dinge möchte ich da zu bedenken geben. Das eine ist die fraglos erodierte Grundhaltung der besseren Gesellschaft zur Kirche. Das hat viel mit der hohen Scheidungsrate zu tun, mit der man sich vielleicht vom Partner befreit, aber gleichzeitig auch das Gerede bekommt, und das wiederum hat dann stets katholisch-moralische Züge. Gleichzeitig trifft es nicht nur den Täter, sondern auch seine Familie, bei der gefragt wird, warum sie so etwas zulässt, und ob da niemand an die Kinder denkt – und hier in der Regel eben auf eine Familie, die ohnehin schon im inneren Kriegszustand ist. Entlang der Kirche kommt es bei solchen Fragen – wie auch Abtreibung, Erziehung, Zweitbeziehungen, Homosexualität und interkonfessionelle Ehen – zu Frontstellungen, hier die einen mit dem Missetäter in ihren Reihen, dort die anderen, die noch alte Rechnungen offen haben, oder einfach nur gerne lästern und sich dabei im Recht der Kirche wissen. Da muss es nicht zwingend sofort zu Austritten kommen, aber irgendwann steht auch die Steuer an – und warum sollte man einen Laden unterstützen, dessen Betschwestern die Familie ausrichten.
Nach meiner Erfahrung sind es diese eher normalen und heutzutage oft auftretenden Konflikte rund um das Blut, das dicker als Wasser ist, die das Bild der Kirche als reaktionäre, nicht mehr zeitgemässe und bigotte Einrichtung prägen. Die Anlässe sind dauernd präsent, mal giftet eine Tante, mal kann Bischof Mixa dem Drang zum Mikrophon nicht widerstehen. Das Andere, das wirklich Schlimme, das Unaussprechliche ist eher etwas, von dem gemunkelt wird; und selbst ich, der ich in so einem katholischen Grossumfeld aufgewachsen bin, kenne nur ein paar wenige, wirklich üble Geschichten – darunter eine Klosterschule, in der man zumindest dazu beigetragen hat, eine Bekannte während des Abiturs in den Tod zu treiben. Was aber manche Eltern nicht davon abgehalten hat, für ihre Kinder einen Platz in einem kirchlichen Wohnheim zu suchen, nachdem sie mit den Unverschämtheiten des Münchner Mietmarktes Bekanntschaft gemacht hatten.
Die Dinge, die nun bekannt werden – besonders aus Kloster Ettal und von den Regensburger Domspatzen – sind dazu angetan, die Eltern so fassungslos zurückzulassen, wie wir es als Jugendliche nach dem Selbstmord waren. Erstaunlicherweise kann die Kirche ansonsten bis zu einem gewissen Punkt sehr gut mit dem Ruf der kompletten Amoral einiger ihrer Mitglieder leben; gemunkelt wird nämlich schon seit 1800 Jahren. Anfangs des 3. Jahrhunderts, als die Christen im römischen Reich nicht mehr als jüdische Sekte erkannt werden, kommt es zu willkürlichen Verfolgungen des Mobs, bei denen Unterstellungen von Inzest und sexuellen Fehltritten mit eine Rolle spielen. Überraschend zivilisiert gehen Philosophen wie Porphyrius zu jener Zeit noch mit den Christen ins Gericht, aber die Masse hat ein dezidiert anderes Bild. Es sind bezeichnenderweise die Kirchenväter des 4. Jahrhunderts, die dann die schlimmsten Vorurteile bestätigen: Johannes Chrysostomos hatte das Pech, vom Einsiedlerfleck weg als Bischof von Konstantinopel enagagiert zu werden, und sah sich dort mit einer Priesterkaste konfrontiert, die die Kirchengüter mit ihren Geliebten durchbrachten und sich auch sonst eher schlecht benahmen. Bezeichnenderweise waren es seine öffentlichen Predigten gegen diese auch sexuellen Verfehlungen, die ihm am Ende die Karriere und die Gesundheit kosteten.
Zur innerkirchlichen Kritik an der Verlotterung des Klerus gesellen sich auch Berichte wie die Vita des heiligen Emmeram, der im 7. Jahrhundert in Regensburg wirkte. Der Legende zufolge soll die Tochter des bajuwarischen Herzogs mit einem Hofmann ein Verhältnis gehabt und es Emmeram gebeichtet haben, worauf der sich als Vater angeben liess und als Pilger gen Rom entfleuchte. Der Sohn des Herzogs allerdings stellte ihn, liess ihm die Körperteile abhacken (ja, auch Dieses Körperteil) und enthaupten. Auch, wenn es sich dabei möglicherweise um eine Verbrämung politischer Motive handelt, so muss der generelle Verdacht, ein Bischof könnte die Beziehung zu seiner Beichttochter zu sexuellen Handlungen missbraucht haben, in jener Zeit nicht vollkommen unvorstellbar gewesen sein. Aus dem Regensburger Damenstift Niedermünster gibt es einige gesalzene Visitationsberichte, die die dortigen Zustände drastisch schildern – auch hier waren die Damen übrigens einflussreich genug, die innerkirchliche Untersuchung ihrer Laster ohne Konsequenzen vorbeigehen zu lassen.
Es folgen Jahrhunderte der kirchenfeindlichen Schwänke und Zoten; der notgeile Pfaffe, der sich an allem vergreift, was er bekommen kann, ist ein eigener Topos der Literatur, an dem sich alles versucht, was Rang und Namen hat: Diese Gestalten bevölkern das Inferno von Dante und treiben im Decamerone von Boccaccio ihr Unwesen, mit Villon steigt so ein schänderischer Priesterstudent selbst zum Zuhälter und Dichter der Körperfreuden auf, die ihm später der Jungpriester Casanova bei 13-jährigen gleichtun wird; Margarete von Navarra, selbst kein Kind von Traurigkeit, geisselt sie unerbittlich als unsittliches Pack im Heptameron, und die Kirche selbst ist auch nicht müssig, im ein oder anderen Höllensturz den unkeuschen Priester mit fallen zu lassen – selbst wenn der Vorwurf des Kinderschändens in jener Zeit vor allem gegen die Juden erhoben wird. Jahrhundertelang weiss man bei Laien und Priestern über die Verfehlungen und lebt irgendwie damit. Bis 1731 die bessere Bürgerstochter Catherine Cadiere den Jesuitenpater Jean-Baptiste Girard in Aix-en-Provenze anzeigt, er habe sie verhext. Was dann folgt, ist ein Jahrhundertprozess, an dessen Ende das Verbot der Gesellschaft Jesu steht.
Es ist nur ein Fall von Missbrauch: Der im Ruf der Heiligkeit stehende Girard wusste Frauen so einzunehmen, dass sie in religiöse Verzückungen verfielen. Sie bekamen Eingebungen, Visionen, Engelsgesichte, das ganze Programm, aus dem man Heilige baut. Catherine Cadiere ist seine Lieblingsschülerin, und sie stigmatisiert, sie hat eine Wunde unter der linken Brust, auch fühlt sie Dornenschmerzen im Kopf, und dann wird sie dick – und schwanger. Der Fall landet vor Gericht, die ganzen Details des Wirkens des Jesuiten werden publik und schnell zur mächtigen Waffe der Aufklärung. 1748 erscheint anonym der Roman “Die philosophische Therese”, dem dieser Fall zugrunde liegt, und diesmal ist es eben anders als in Aretinos Kurtisamengespräche, wo die Heldinnen keine Namen ihrer Verführer in Kindertagen nennen: Die philosophische Therese wird zum Renner und zertrümmern nachhaltig das Renomme der Gesellschaft Jesu in ganz Europa. Tausende Male hat man nur gemunkelt und die Vertuschung zugelassen: Diesmal ist es anders. Ein Fehltritt eines alten Mannes erlaubt der Aufklärung den Stoss ins Herz der Gesellschaft Jesu. Es passt einfach zu gut: Denn hier geht es nicht mehr um die Libertinage des Adels, die alles beschläft, was sich bietet. Diesmal geht es um die Ehre und Schande der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft. Hier geht es um deren moralischen Codex und seine Verletzung durch dessen Garanten, die alles tun, um den Täter gegen die Ansprüche des Opfers zu schützen.
Nun ist es wieder erneut so gekommen. Oder besser, man hat es so weit kommen lassen. Man hat lange gemunkelt, es gab kleinere Aufreger wie das Engelwerk oder Radio Maria, aber nun sieht man auch schlimme Befürchtungen übertroffen. Die Jesuitenschule in Berlin, Kloster Ettal und die Regensburger Domspatzen sind schliesslich nicht die Rütlischule und auch keine Einrichtungen für schwer Erziehbare, wo man normalerweise die sexuelle Gewalt verorten würde, und gerade die Domspatzen, die in Bayern viel zum Ruf der Kirche beitragen, werden dadurch massiv in Mitleidenschaft gezogen. Es ist war bis vor ein paar Tagen unvorstellbar, dass Bilder von Schutzbefohlenen im Internet auf einschlägigen Seiten gezeigt werden – das machen in der Vorstellung der Westviertelbewohner höchstens schlimmste Barackler. Aber nicht das Personal der katholischen Kirche. Andere sind auch betroffen. Es ist nur eine kleine Gruppe schuldig, und eine kleine Gruppe wegen der Vertuschung. Aber das ändert nichts am Entsetzen.
Sunt homines, qui glauben, dass sie auch diesmal damit irgendwie durchkommen; die Sache mit Hans Hermann Kardinal Groër und Bischof Krenn in Österreich hat man ja auch durchgestanden – ich aber sage der Kirche, dass das Westviertel keine Gnade kennt mit Schuldigen, die nicht ihre Sünden einsehen, und ich glaube auch nicht, dass sie da mit den Tätern und ihren Helfern gnädiger umgehen als mit Nachbars Rabauken, der das Fenster nicht eingeschlagen haben will.