Benimm dich da nicht wie ‘ne dumme Gans und auch nicht wie ‘ne Schneppe, sondern hübsch anständig.
Pietro Aretino, Kurtisanengespräche
Es ist die eine Sache, durch Italien zu reisen und zu wissen, dass der Lebensstandard der Menschen seit Jahren eher sinkt, ein grosser Teil der Bevölkerung in erheblicher Armut fern aller hiesigen, weitberühmten Delikatessen lebt, und dass dieses Land zu den wirtschaftlichen Brandherden der Europäischen Union gehört. Es ist die andere Sache, durch Verona zu laufen und zu sehen, wie viele Frauen mit einer auf den ersten Blick erkennbaren Luxustasche über den glatten Marmor schlendern.
Ungeachtet der Frage, ob auf dem Corso nicht auch die ein oder andere Fälschung vorgezeigt wird: Diesen Taschen ist es erstaunlicherweise gelungen, unterschiedslos an Arme aller Altersgruppen zu gelangen. Es trägt sie die von der Malerei sichtlich gelangweilte Tochter im Palazzo del Te, wie auch die etwas lautstark blondierte und redende Dame in der Cantina Canossa; die Falten mögen kommen und die Figuren mögen vergehen, aber nie ändert sich daran hängend diese Tasche. Gäbe es heute noch einem Beigabenbrauch, so würden spätere Ausgräber der besseren Leichen fraglos diese Taschen als Rang- und Statusabzeichen erkennen, das über Generationen erhalten bleibt.
Nun gibt es dafür in der menschlichen Geschichte durchaus Parallelen; die Tracht der besseren Merowingerdamen etwa änderte sich im Verlauf des 7. und 8. Jahrhunderts, so dass die Gewandfibeln, die die Kleider an den Schultern zusammenhielten, nicht mehr zwingend notwendig waren. Statt aber aufgegeben zu werden, wanderten sie an das Gürtelgehänge, um dort ihre Funktion als Statussymbol beizubehalten, selbst wenn sie ihre Funktion längst verloren hatten. Dort findet man sie dann heute auch noch in Gräbern bei Jung und Alt.
So ähnlich dürfte es auch heute wieder sein; das Objekt als solches wird in besseren Kreisen erst gar nicht mehr hinterfragt, es gehörte schon zu Mutter, vielleicht auch zur Grossmutter, und spätestens mit dem Abitur dann auch zur Tochter. Es passt überall dazu, von der zerrissenen Jeans bis zum Abendkleid, es ist ein universell vorzeigbares Symbol, das von allen verstanden und als Ausweis einer bestimmten Haltung und eines klaren Standesbewusstseins akzeptiert wird – selbst wenn sich andernorts damit auch TV-Ansagerinnen, Sprechsängerinnen und andere Leute zeigen, denen man nicht vorgestellt werden möchte. In kleinen Städten und den hermetisch abgeschlossenen Westvierteln spielt dieser Missbrauch keine Rolle.
Nun könnte man natürlich sagen, dass es verächtlich und dumm ist, dergleichen Ideologie an einem Sack zum Mittragen anderer überflüssiger Dinge festzumachen, und an einer ganz bestimmten Marke, die ostentativ – und damit leicht erkennbar – wie keine andere ist. Man könnte auf das klassenlose Erwerbskriterium Geld hinweisen, das die einzige Zugangsbeschränkung ist, und damit weder die japanische Schülerin vom Besitz abhält, die das Objekt von ihrem damit bezahlenden Käufer erhält, noch die Dorfmetzgersgattin und auch nicht all jene, die sich das Objekt der Begierde bei Strassenhändlern oder original und fast ganz echt im Internet ersteigern.
Das mag fraglos sein, und es liesse sich auch trefflich über die Dummheit der Marketingopfer reden, aber man kann etwas Erstaunliches festhalten: Hier bildet sich eine neue Tradition heraus, die immerhin drei Generationen umfasst. Das ist um so bemerkenswerter, als das 20. Jahrhundert mit anderen Tradition einmal Tabula Rasa gemacht hat. Kaum eine Tradition hat es geschafft, dieses Jahrhundert der Moderne bruchlos zu überleben; nichts von dem, was für Urgrossmutter noch absolute Gewissheit war, ist für die Enkelin noch von Bedeutung.
Die Aussteuerschränke, der Rosenkranz, der Herrgottswinkel, das Goldrandgeschirr, das Tafelsilber, die Broschen, die alten Perlenketten, die langen Handschuhe, die lebenslange Ehe, das selbst zubereitete Essen aus Grossmutters Rezeptsammlung, Schneiderkostüme, die Einladungen und Gegeneinladungen, die Kommunikation über Briefe, die Fächer, die Höflichkeit, die Formen des gesellschaftlichen Umgangs – alles ist im 20. Jahrhundert und seinen gewaltsamen und ökonomischen Veränderungen untergegangen. Der besseren Gesellschaft sind auf weite Strecken nicht nur die Traditionen, sondern auch die zugrunde liegende Moral abhanden gekommen. Bis zu den heutigen Töchtern mussten sich drei Generationen ständig neu orientieren und alte Gewohnheiten aufgeben.
Es ist dieses Vakuum, in dem neue Traditionen erfunden werden, erfunden werden müssen, um die eigene Position zu begründen und sichtbar zu machen. Es macht eben keinen Sinn mehr, der Tochter einen Aussteuerschrank mit besticktem Leinen zu füllen. Also kauft man ihr eine möglichst grosse Tasche, damit sie wenigstens ein wenig Wäsche und die Ehehygiene dabei hat, wenn sie nach der Party mit einem Mann mitgeht, der einem nicht vorgestellt wurde. Man arrangiert sich mit dem neuen Lebensstil und sorgt dafür, dass sie auch dabei nicht billig und arm wirkt; vielleicht auch in der Hoffnung, dass es auf Herren, die den Klassendünkeln nicht entsprechen, einen abschreckenden Eindruck macht. Es ist kein besonderer Wert, den man der besseren Tochter auf die Piste mitgeben kann, aber es ist wenigstens ein Wert, über den man sich mit ihr einig ist, wenn alles andere schon nicht mehr zieht.
Natürlich reicht das nie und nimmer aus, um sich als Träger einer überlegenen Ideologie zu präsentieren, die von sich glaubt, in einer Vorbildfunktion für den Rest eine historische Mission zu erfüllen. Aber es ist Italien, ein Land, in dem jemand wie Berlusconi mehrfach an die Spitze des Staates gelangte, es ist das Land, in dem ein Ehrenmann des päpstlichen Stuhles mit Callboys in Verbindung ist, in dem auf Plakaten gegen Steuerhinterziehung geworben werden muss, und die organisierte Kriminalität ihr Geld bei Telekommunikationsfirmen wäscht. Italien ist ein gutes Beispiel für das, was dem bürgerlichen Lager auch in Deutschland noch an Verlotterung droht, und angesichts solcher Wertelosigkeit kann man schon froh sein, wenn es überhaupt noch neue Traditionen gibt, so klein und unscheinbar sie auch sein mögen.
Man kann sich daran festhalten, man kann sich am Schulterriemen reissen, man hat die Gewissheit, anders zu sein, anders als die anderen Schichten, für die es nicht mehr um die Werte oder gar den Aufstieg geht, sondern nur noch um die Frage, wie man den weiteren Abstieg verhindert, wenn auch 2010 viele Touristen ausbleiben und die Chinesen weiterhin selbst den Heimatmarkt der Lederproduzenten mit billigen Importen überschwemmen, und auf die Verarmten vor der Stadt die Filialen des deutschen Billigdiscounters warten. Man kann seine Traditionen und Werte über Bord werfen und dennoch oben bleiben, man kann mit Taschen jenen Neid erzeugen, den man früher mit Festessen und Opernbesuchen schuf: Solange man mit dem Niedergang im allgemeinen Trend des Systems bleibt, ändert sich nichts.
Und das ist für das bessere Bürgertum der einzig wahre Wert.