Den leeren Schlauch bläst der Wind auf, den leeren Kopf der Dünkel.
Matthias Claudius
Die Schuhe, sagt die Verkäuferin im kleinen Geschäft in einer Nebenstrasse Mantuas, seien natürlich italienisch und handgemacht, keinesfalls vergleichbar mit der schlechten Massenware aus China. Wirklich gute Schuhe. Sie weist auf ein grosses Poster, auf dem ein alter Mann Schuhe fertigt. So werde das gemacht. Es kann nicht allzu gut um das italienische Schuhmacherhandwerk bestellt sein, wenn man südlich des Alpenhauptkammes explizit darauf hinweisen muss. Die grossen Umsätze werden ohnehin im Industriegebiet, fernab der Innenstädte gemacht, in Hallen, deren Produkte zwar italienische Flaggen, aber nur begrenzt eine garantierte Herkunft mit sich tragen. Auf den Strassen muss man sich lange umsehen, um jemanden zu entdecken, der noch Schuhe aus echt italienischer Handarbeit trägt.
Italienische – oder die in italienischen Geschäften auch beliebte britische – Handarbeit wird gern und häufig betont, wenn ein Kunde bereit ist, erheblich mehr als die monatlichen Essenskosten eines Hartz-IV-Berechtigten für Lederwaren auszugeben. Die gesamte Beratung dreht sich um den zentralen Aspekt der menschlichen Tätigkeit, die den Preis rechtfertigt. Herrenausstatter in Parma setzen ein Messingschild mit “Hand Made” in die Schaufenster, ihre moderneren Kollegen in Meran haben einen Grossbildfernseher aufgestellt, auf dem in Dauerschleife die Herstellung von Schuhen gezeigt wird. Die Diskrepanz zwischen altem Handwerk und neuer Mattscheibe mag befremden; ein britisches Haus dagegen liefert einfach ein Bild, das eben jenen Herrn vorstellen soll, der nun schon etwas länger diesem Beruf nachgeht. Tradition, Beständigkeit, Erfahrung, Geschichte, man kann das Leder fast schon riechen, und der Kauf ist nicht nur der Erwerb eines Produkts: Es ist ein Akt des Widerstandes gegen die Moderne.
Der Besserverdienende darf den Laden also mit dem Gefühl verlassen, einem netten, älteren, schuhnähenden Herrn geholfen zu haben, er setzt sich nicht einfach nur vom Pöbel mit den Plastikschuhen ab, er kauft überlegen und gleichzeitig verantwortungsbewusst. Handarbeit bedeutet nicht nur das Prestige für den Besitzer, dass für ihn ein freundlicher, älterer Herr in London oder Parma näht, und keine Maschine in China Plastik stampft. Es schmeichelt natürlich der klassentypischen Maschinenfeindlichkeit, und natürlich schätzt man es, wenn Menschen für einen arbeiten und einen nicht über Marketingkampagnen modisches Zeug andrehen. Handgemacht ist eine Art Ablasshandel der Globalisierung und der Umverteilung, denn Handgemacht besagt, dass der Käufer auf chinesische Folterarbeit verzichtet, derer sich die Ärmeren so oft bedienen, und Handgemacht bedeutet die Übernahme von Verantwortung für das Alte Europa und seine Lederkünstler. 280 Euro für Turnschuhe sind nur teuer, wenn es entweder Modemüll aus China ist, oder der Käufer neben dem englischen Leder auch das Gefühl mitnimmt, es den Chinesen und den anderen Schichten gezeigt zu haben, wie das mit der Bewahrung der Tradition geht. Qualitativ hochwertige und multifunktionale Dünkel, und hier spreche ich aus eigener Erfahrung, sind selten so billig und mit so hohem Nutzwert zu erwerben.
Darüber wird natürlich so einiges gern übersehen; der Umstand etwa, dass diese Tradition nicht wirklich in der breiten Masse der Reicheren alt und ehrwürdig ist. Zwischen dem weitgehenden Aussterben der massfertigenden Schuster und der Besinnung auf das europäische Handwerk liegen ein paar reichlich unrühmliche Jahrzehnte, in denen man stets froh war, das Alte nicht mehr haben zu müssen, und das Neue einfach billig kaufen zu können. Und dann sind da auch noch die Trittbrettfahrer wie jene grossen Marken, die global mit eben jenen alten Qualitäten werben, aber allein aufgrund ihrer schieren Grösse bislang auf eine Art und Weise produzieren mussten, die den Zuständen in jeder beliebigen Fabrik nicht eben fern ist. Es gibt also ein sehr unerfreuliches Traditionsproblem, in dessen Folge vor allem Bekehrte nach solchen Waren gieren, und ein durch Illegitimitätsverdacht erschwertes Angebotsproblem – es gibt zuviel davon, zumal in Krisenzeiten, da die Warenwelten solcher globalen Marken erstaunlich leer bleiben, und den Verkäuferinnen alle Zeit der Welt für angenehme Lektüre bieten.
Solche kleinlichen Bedenken jedoch wischt der öffentliche Raum, in dem sich Arm und Reich, Oben und Unten über den Weg laufen, schnell und nachhaltig weg. Auch hier kann ich aus Parma berichten, wo sich vor dem Baptisterium eine Horde Jugendlicher einfand, meist in Ballonseide und Turnschuhen gekleidet, und unangemessen laut wurde. Es war nicht das ideale Umfeld zur innerlichen Betrachtung der spätromanischen Skulpturen: Es war laut, vulgär und aus allen möglichen Löchern der Globalisierung zusammenimportiert. Es war, kurz gesagt, eine Vorführung dessen, was die Alternativen sind, wenn man sie nur frei walten lässt: Eine marode Fabrik in China, viel Plastik, der nach Europa geht, und viel Müll, der in die Umwelt gelangt, ein paar Marketinggimpel in Büros in diversen Ländern, ein paar hundert Prozent Gewinnmarge, und am anderen Ende Menschen, die sich darin schlecht benehmen und ihren Müll einfach vor dem Baptisterium liegen lassen. Qualitativ hochwertige Dünkel brauchen eben nicht nur den liebenswerten Opa auf der eigenen Seite, sondern auch die unzivilisierte Horde auf der anderen Seite, die vorstellt, wie sich die Kultur- und Traditionslosigkeit in Chinamüll in die eigene Lebenswelt einbringt.
Dergleichen öffnet die Augen. Besonders, wenn sich gleich neben dem Baptisterium ein Geschäft für Stoffe befindet, und man schielend durch den Vorhang genau so einen älteren Herren beim Bepolstern eines Stuhles erblickt. Neben der Tür ist die Klingel mit der Aufforderung, sie doch zu drücken. Und ist daheim nicht noch ein verschlissener Biedermeierstuhl, der einen Seidenbezug brauchen könnte? Wäre der Granatapfelbrokat dort hinten nicht eine hübsche Tischdecke? Und passt nicht der rotgraue Bienenstoff bestens in die Bibliothek? Draussen kreischt der Mob um des Kreischens Willen, hier jedoch wird man kundig beraten, freundlich gefragt und als Gleichgesinnter geschätzt. Es sind diese Momente, da man sich leise fragt, ob Umverteilung wirklich so eine schlechte Sache ist. Nehmen wir an, man gäbe der Horde draussen mein Schuh- und Stroffbudget für diese Reise – bei wem würde das Geld enden, mit welchen Flaschen, Verpackungen und optischen Beleidigungen würde man im Gegenzug überflutet werden? Mögen sie draussen weiter brüllen in ihrer leicht waschbaren Ballonseide, es ist eine gute Erinnerung an den Umstand, dass die Welt nicht von ihnen und ihren Einflüsterern der Konzerne dominiert werden darf. Man muss etwas dagegen tun, die Welt im Gleichgewicht halten, sollen sie von der Ausbeutung in China profitieren, man selbst sorgt schon dafür, dass die Welt ein wenig besser wird.
In Valeggio sul Mincio gibt es ein Restaurant gleich neben einer Nudelmacherei, und wenn das Wetter schön ist, sitzen die alten Tanten vor der Tür an einem Tisch und fertigen ratschend mit atemberaubender Geschwindigkeit Tortelli con Zucca, ein Inbegriff der Würde der Arbeit. Man betritt das Lokal, wählt und bekommt sie frisch serviert, mit Butter und Salbei. Man lehnt sich danach zurück und überprüft, ob man über den Horizont der Körperwölbung hinweg noch die eigenen Schuhe sieht – da sind sie, es sind feine italienische Schuhe aus der angeblichen Hand eines netten Grossvaters, und für einen Moment möchte man fast glauben, dass es mit allen Dünkeln und Selbstbetrug immer noch sehr viel richtiges Leben in einer sehr falschen Welt geben kann. Es ist ein brandgefährlicher Gedanke, den man da hegt, man ideologisiert den eigenen Hedonismus, man findet Gründe, warum das eigene Wohlleben gut und das der anderen schlecht ist, die nicht stumm die Meisterwerke der späten Romanik bestaunen, sondern lieber lärmen und blödeln.
Man ignoriert die Komplexität der Welt, der Gesellschaft, ihrer Kräfte und der eigenen Möglichkeiten, man macht es sich einfach, so einfach wie eine Heilsgeschichte, und fast so einfach wie jene Trottel, die ihre Dosen an den Toren des Baptisteriums zurücklassen. Vielleicht aber ist es auch genau diese Einfachheit, diese simple Erfindung eines alten Männer, der etwas für einen tut und einen nicht zwingt, sich über grössere Zusammenhänge und die eigene Stellung darin auch nur einen Gedanken zu machen, exakt das, was man letztlich kauft: Eine gute Entschuldigung für schlechte Dünkel. Und das kann nie billig sein.