Die Dinge leeren und die Namen füllen sich.
Octavio Paz, Der sprachgelehrte Affe
Wenn sich morgen im Westviertel dieses Jahr vielleicht, bedingt durch Prügel- und Missbrauchskandale, etwas weniger Leute als sonst auf die Räder schwingen, um bei schönem Wetter den Ostergottesdienst zu besuchen, werden sie nicht ahnen, was nur wenige Stunden davor rund um die alten Plätze der Stadt geschah. Denn es ist nicht nur Karsamstag, sondern auch normaler Samstag, und entsprechend voll ist die Stadt mit Menschen in guter Stimmung, alkoholisch unterfüttert und mit Testosteron geschwängert. Nicht wenige betrinken sich mehr oder weniger gezielt, und dann kommen all die üblichen Nebenwirkungen; es wird sich übergeben und die Stadt mit Körperausscheidungen verdreckt, es bleibt der Müll zurück, und ab und an zerdeppert einer aus Freude eine herumstehende Flasche, an der sich am nächsten Morgen der Gottesdienstbesucher die Reifen aufschneidet – wenn das junge Pack, nennen wir es als Hausbesitzer in der Altstadt ruhig so, wir haben ja auch schon einige von denen angezeigt, wenn also das junge Pack also dazu die Gelegenheit hat.
Dazu bräuchte es aber zuerst eine Flasche, die jemand ohne die Notwendigkeit, das Pfand einzulösen, irgendwo zurück gelassen hat. In weiten Teilen des Packs gehört es heute schon zum guten Ton, mit der Flasche in der Hand durch die Stadt zu laufen, und sie dann vor dem nächsten Lokal stehen zu lassen. Die paar Cent kann man sich leisten, und die Stadt soll selbst sehen, wie sie mit dem Dreck fertig wird. Man müsste sich also nur danach bücken und werfen, und schon könnte man die Strasse für Radler schlecht passierbar machen, Lärm erzeugen für die Anwohner, oder vielleicht sogar ein Fenster einwerfen, und anderes, was heute eher als Bagatelle wirkt.
Aber da kommt auch schon ein kleiner Mann um die Ecke, ein Fahrrad schiebend; er bückt sich, hebt die Flasche auf und verstaut sie. Es ist eine amüsante Sache, diesem Herrn ein wenig durch die mondhelle und geistesfinstere Nacht meiner dummen, kleinen Heimatstadt zu folgen, da sich die Jugend betrinkt und man vielleicht auch wenig anderes zu tun hat; viel ist ja nicht los, also bleiben wir bei dem Herrn, betrachten wir sein Tun und überlegen wir uns die Konsequenzen. Gerade weil die herumliegende Flasche eine Gefahrenquelle für uns Besitzer grösserer Liegenschaften ist, oder zumindest ein Ärgermis am nächsten Morgen, und er sie freundlicherweise verschwinden lässt.
Rein äusserlich könnte er auch ein französischer Bauer sein, oder ein englischer Jäger, irgendjemand, der sich oft draussen aufhält. Er ist in einem undefinierbaren, dunklen Braungrün gekleidet; es ist zweckmässig und trotzdem nicht nachlässig. Er trägt ein Wollsakko und einen Pullover darunter, auf dem Kopf eine Kappe und Hosen, die dann doch einen Hinweis geben, dass es um ihn nicht allzu gut bestellt sein kann. Die Hose ist definitiv zu lang, sie wirft oberhalb der Füsse deutliche Wülste, und da ist offensichtlich niemand, der ihm die Hosenbeine kürzt. Unter all den Besoffenen und Vorgeglühten, unter den Schwankenden und Brüllenden fällt er aber vor allem durch seine Nüchternheit auf; sein Gang ist sicher und schnell, seine Bewegungen sind zielorientiert und rational, er hat eine Aufgabe und eine Absicht. Er sammelt Flaschen. Er geht die stark frequentierten Orte ab und bemächtigt sich der leeren Gläser.
Er hat sogar etwas, das uns längst verloren gegangen ist, die wir mit Freuden vor Gericht gegen glatzköpfige Wehrdienstleistende und peinlich betretene Kinder von Eltern aussagen, die nicht glauben wollen, dass ihre Brut erst dem Skoda und dann dem Mercedes aufs Dach gesprungen sind. Er glaubt an die Vernunft dieser Wesen, die uns die Nächte erschweren, und so steuert er die Abfalleimer an, in die man logischerweise die Flaschen stecken würde, wäre man vernunftbegabt und hätte keine Alternative zum Pfandeinlösen, Der Flaschenmann hat zu diesem Zweck extra eine Taschenlampe dabei, mit der er in die Behältnisse leuchtet, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Er findet nicht jedes Mal eine Flasche, aber wenn er eine sieht, greift er schnell und entschlossen zu, verstaut sie in seinem Rucksack, und sucht weiter.
Zu gerne wüsste ich, was ihn konkret in die Partynacht dieser Stadt treibt; an Hunger glaube ich nicht, denn dazu ist er beim Zugriff nicht gierig und verzweifelt genug. Mit einem Loch im Magen würde er nicht so überlegt vorgehen. Vielleicht ist er einer der hier eher seltenen Empfänger von Hartz IV, der einen Trick gefunden hat, sich an den Nachstellungen des Staates vorbei etwas hinzu zu verdienen. Vielleicht ist er auch einfach nur arm; Obdachlos scheint er nicht zu sein, vielleicht aber hasst er den Umgang all der Sorglosen mit Geld, das sie einfach wegwerfen, irgendwer wird schon zahlen, diesmal die Eltern und später gibt es vielleicht ein Grundeinkommen für alle, da braucht man die lausigen Cent doch nicht. Der Flachenmann denkt anders, und er hat mit seiner Taschenlampe über dem Mülleimern mehr Respekt verdient als jene, denen es devinitiv besser geht, die genau diese Erfahrung nicht haben, und vielleicht deshalb so sind, wie wir das Wochenende um Wochenende betrachten können – denn wie sollte jemand, der vor seinem eigenen Vermögen schon keinen Respekt hat, den Besitz Anderer achten?
Es sind diese Momente, da ich gerne eine Firma hätte. Oder eine Organistion, oder zumindest eine Stelle zu vergeben. Was immer den Flaschenmann dazu gebracht hat, hier und jetzt durch meine Stadt zu laufen, in der er ein Nichts in Augen des Sozialamts ist, und ich ohne jeden Verdienst, nur durch mein hier Sein zu den geachteten Herrschaften zähle, die man mit Namen kennt und deren Reisen und Gäste Thema auf dem Wochenmarkt sind; was immer diese Ungleicheit geschaffen hat, an deren einem Ende er irgendwohin verschwindet, wo er die Flaschen hortet, und ich heimgehe in das Stammhaus meiner Familie und Tee aus silbernen Kannen trinke; was immer uns trennt – es ist nicht gerecht. Und da sollte man etwas tun. Ich bin nur ein Beobachter und Leidtragender des Packs, aber der Flaschenmann ist in dieser Nacht das ordnende Prinzip.
Er ist pedantisch, er hat ein System, er hat eine Strategie entwickelt. Die Tüten an seinem Rad sind so sauber geordnet, wie Bankenbilanzen dreckig und vermüllt sind. Sammlung, Bewertung und Einordnung betreibt der Flachenmann in einem einziger Arbeitsgang. Ich möchte in einem Staat leben, der so ordentlich, rational und durchdacht ist wie das System, mit dem der Flaschenmann aus dem kleinen Rad eine Transporteinheit für weit über 100 unterschiedliche Objekte macht. Ich hätte gerne, dass er Atomkraftwerke kontrolliert und Banken überwacht, ich sähe diesen Arbeitsethos gerne anstelle der Ideologie, nach der man morgen später kommt, wenn man heute zu viel saufen war. Ich würde zumindest all die Schreier gerne zwangsverpflichten, eine Nacht mit ihm durch die Stadt zu gehen und zu sehen, was er sieht. Und während ich zu meiner warmen Wohnung mit den Tausenden von Büchern und den weichen Betten weitergehe, taucht er aus dem kalten Schwarz vor mir auf und hat wieder ein paar neue Flaschen dabei.
Wenn morgen die Spiesser und feinen Leute aus dem Westviertel kommen und dann vergnügt wieder fahren, weil das Leben schön und reich ist, die Kinder aus den grossen Städten kommen, und ihre Räder so leicht und frei von Plattfüssen drehen, werden sie nie wissen, dass der Flaschenmann sein Rad ein paar Meter weitergeschoben hat, für neue Flaschen, ein paar Euro, zu ihrem Nutzen, für die Schönheit der Stadt und die leise Frage, ob, wenn wir schon das grölende, saufende und kotzende Pack als Unterschicht definieren, die Stützen der Gesellschaft nicht doch eher die Flaschenmänner sind, als die Eltern, die den Alkoholismus ihrer Bratzen nicht ordentlich kontrollieren, bis sie unter meinem Fenster eine Mutprobe machen, und ich die Polizei rufe. Am Montag liest man dann im Westviertel kopfschüttelnd von den Schlägereien in der Altstadt, aber ich finde bei aller Dramatik und der ausgleichenden Gerechtigkeit der blauen Flecke und Ausnüchterungszellen, dass mir die Geschichte vom Flaschenmann sehr viel besser gefällt.