Wir haben gehalten in der langweiligsten Landschaft der Welt
Wir haben uns unterhalten und festgestellt dass es uns hier gefällt
Tocotronic, Let there be rock
Die Zeitung, in deren Internetauftritt dieser Text erscheint, nimmt für sich in Anspruch, „Zeitung für Deutschland” zu sein. Dieser Text jedoch erscheint auch in einem Blog, das sich keinerlei Mühe gibt, was auch immer „für Deutschland” zu sein. Deutschland ist, vom Standpunkt dieses Blogs betrachtet, eine weniger einigende als vielmehr groteske Staatsidee, mit meiner Heimat an einem oberbayerischen See als dem einen Extrem, und ziemlich viel anderem als konträres Extrem, was man vielleicht kennen würde, käme man ab und zu hier raus. Ich etwa hatte das Vergnügen, nicht nur eine Weile den Bundeshauptslum Berlin kennenzulernen, sondern auch die Regionen, in denen es noch übler zugeht – besuchen Sie mal das schöne Vockerode an der Elbe. Alle kennen Dessau, aber ich sage, um den Osten zu kennen, sollte man Vockerode kennen. Wie Klein-Frankfurt nach dem Bankenkollaps. Damit bin ich aber schon eine reichlich atypische Ausnahme für meine anderem stets feindlich gegenüberstehende Heimat.
Als eine solche Ausnahme bringe ich natürlich auch Erfahrungen mit, die man sich bei uns gar nicht vorstellen kann, in jenem anders-ominösen „Deutschland” aber nur noch Schulterzucken verursachen. Am Tegernsee könnte eine Unterschicht – also nicht nur arme Leute, oder im Vergleich zum Durchschnitt der dort Wohnenden arm – erst gar keine Wohnung bekommen und folglich auch nicht in Erscheinung treten. Herabgeschaut wird nicht auf Flaschensammler, sondern auf Leute mit Autokennzeichen aus Erding und Fürstenfeldbruck an ihren störenden Familienkutschen. Oder auf Leute, die aus jenem Deutschland kommen. Da Breiss gherd ned aufn Beag, pflegte ein Onkel zu sagen, wenn jemand aus dem Norden seine Wege kreuzte.
Ich kann mir angesichts dieser herablassenden Haltung nur schwer vorstellen, wie typische Szenen weniger reicher Städte bei uns im Dorf wirken würden. Man denke nur etwa an jene schwarz gekleideten Herren, die an Berliner Ampeln recht aggressiv versuchen, den Wartenden unter Ausnutzung deren Zwangslage eine Scheibenverunreinigung mit dreckigem Wasser zuzumuten. In Berlin lebt man damit, man erduldet es, im üblichen Stau vor dem Bräustüberl am Schloss Tegernsee würde man dagegen die Polizei rufen. Möglichst laute und jedes Gespräch unterbindende Musik gibt es allenfalls zu später Stunde bei den Waldfesten am See, aber nicht als Verdienstmöglichkeit gegenüber Wehrlosen, die weder so schnell zahlen und flüchten, noch irgendwo eine stille Alternative finden können. Letzten Sommer war eine Freundin am See zu Besuch, die in Berlin viel an den sogenannten Szenestrassen unterwegs ist, Castingallee, LSD-Viertel, Bergmannkiez. Sie war es gar nicht mehr gewohnt, stundenlang in einem Cafe sitzen zu können, ohne kontinuierlich um Geld angegangen zu werden.
Kurz, wenn der Tegernsee für Vermögende so etwas wie die beste aller möglichen Welten ist, dann ist dort auch die beste aller möglichen Unterschichten: Gar keine nämlich. Sie existiert nicht, sie kommt nicht herein, und auch in jenem Westviertel, in dem ich meine Jugend verbrachte, gab es allenfalls – das war dann aber auch schon das Schlimmste – einen Autovertriebsbesitzer, der heimlich anderen die Rosenstöcke abschnitt und obendrein nicht über den wünschenswerten, geistigen Horizont formaler Bildung verfügte. Der Ärger über den Rosenmörder mag so gross sein wie über den Autozerkratzer, gefühlt sind die Unterschiede identisch – und dennoch unterscheiden sich der Mann mit der Heckenschere und der Kerl mit dem scharfen Gegenstand fundamental.
Unterschichten, mit denen man tatsächlich in Kontakt kommt, sind ein immer unerfreuliches Thema, und so werden sie nach Möglichkeit nicht weiter beachtet. Die Frage, wie man eigentlich eine bessere, angenehmere und sozialverträglichere Unterschicht gern haben würde, stellt sich erst gar nicht. Das Problem wird so weit wie irgend möglich ignoriert, es gilt als unfein und ist kein Thema für ein angenehmes Gespräch. Sie hat den gleichen Stellenwert wie der Starkregen vorletzte Woche: Man möchte eigentlich davon nichts mehr wissen. Es ist doch so schönes Wetter heute. Vielleicht ist die Idee auch: Wenn wir darüber nicht reden, findet es uns nicht. Und dann ist ja auch noch das Problem, dass man erklären muss, wie es zu dem Zusammentreffen mit der Unterschicht kam. Beim Billigdiscounter, beim nicht standesgemässen Cafe, oder in Frankfurt am Main. Wo ich gerade bin.
Frankfurt versucht ja, mit seinen Banken mächtig etwas her zu machen, gilt aber in meiner Familie als höchst fragwürdig. Man kam dort früher ab und an hin, sah die wenig erbaulichen Regionen bei der Ankunft zwangsweise, und beschloss, seinen Kindern mitzugeben, dass dies kein angemessener Ort sei. Komme ich mit dem Auto, stehe ich meist unter Zeitdruck und vergegenwärtige mir den Ort nicht; komme ich aber wie diesmal mit dem mir verhassten Zug durch die verschmierten Ruinenareale, muss ich ab und an die Augen schliessen und an den See und die Berge dahinter denken. Dann wird das Kommende leichter. All die Menschen. Allein am Bahnhof sind mehr Menschen als in meinen Heimatdörfern. Sie sind schnell, laut, sehr unhöflich und ohne Rücksicht. Man sollte das mal vergleichen, in den Zug einsteigen bei der bayerischen Oberlandbahn und aussteigen in Frankfurt. Das ist in etwa so wie Friede und Krieg, Liebe und Hiebe, Kuss und Keile.
Ich begab mich durch die Massen hinunter zur S-Bahn und fand mich vor einem Automaten mit vielen Reisezielen und Menschen wieder. Ein junger Mann war so nett, mir einen weiteren Automaten um die Ecke zu zeigen, und nach meinem ausgiebige Bestaunen der vielen Ziele auch noch zu erklären, dass ich für „Gallus” einfach die Kurzstrecke zu nehmen hatte. Und ob er, das müsse jetzt leider sein – es sagte wirklich „leider” – mich um etwas Kleingeld bitten dürfte. Ich hätte ohne seine Hilfe vermutlich noch lange den Kasten angegafft, wäre fraglos zu spät gekommen, und gab ihm, erst jetzt seine nicht eben vorteilhafte Kleidung zur Kenntnis nehmend, einen Euro, den ich auf die Schnelle zur Hand hatte, man schaut da ja nicht so lange nach. Wow, danke, sagte der junge, hilfsbereite Herr, ich sei der erste heute, der ihm einen Euro gebe. Zu gerne hätte ich ihn nun gefragt, warum das so sei, Frankfurt behaupte ja von sich, die Stadt des Geldes zu sein, und dann müsse er sich bis um 16.10 Uhr gedulden, um einmal einen Euro zu erhalten – aber ich musste weiter. Und kam pünktlich zu meinem Treffen.
Der Bahnhof ist grösser als meine kleinen, reichen Dörfer, es gibt dort bedrohlich wirkende Gestalten, abgekämpfte und gehetzte Drängler, es geht sehr rücksichtslos zu, und in drei, vier Minuten erlebt man mehr Rempler und Unhöflichkeiten, als in einem Jahr am Tegernsee. Allein schon, dass man nicht mehr aussteigen lässt und sofort in den Zug drängelt, die agressive Stimmung, der Lärm – das alles mag die Hauptstadt des Geldes sein, aber es ist enorm unerfreulich und unangenehm, es ist keinesfalls der Ort, an dem man ein gutes Leben führen kann, ein Ort, an dem alles, was man mit Unterschicht verbindet, real wird, selbst wenn der Ellenbogen, der einen trifft, aus einem Anzugbaukasten stammt. Höflich und hilfsbereit war, ironisch genug, ein echter Angehöriger dessen, was man als Unterschicht bezeichnen kann. Natürlich mit Kalkül, aber das stört nicht, Kalkül ist hier omnipräsent. Der junge Her war vielleicht so etwas wie die Antwort auf die Frage, wie man sich denn die Unterschicht wünschen würde: Nicht wie den Bahnhof, der es in seinem Unbehagen mit einem ganzen Heer von Belästigern aufnehmen kann. Eher so wie der junge Mann.
Morgen fahre ich zurück in die reichen Dörfer des Südens, und der junge Mann wird nach anderen Unwissenden Ausschau halten müssen, während der Euro schon weitergewandert ist, vielleicht in die Kassen eines Supermarktes, oder Regionen, die bei uns so verboten sind, dass sie gar nicht explizit verboten werden. Bei meinem Termin geht es um das Schöne und das Kluge, um die Liebe und andere Illusionen, die vorzutäuschen stets Gewinn bringt, und gar nicht so sehr um all das Trennende, das um so besser funktioniert, je weniger die andere Seite überhaupt als Teil der Realität wahrgenommen wird. Aber in jenem Moment unten im Bahnhof war die Unterschicht so, wie die Oberschicht sie haben möchte, und die Oberschicht zeigte sich so, wie es der Unterschicht gefallen hat. Und beide werden wir es bald verdrängt haben, er in den Drogen, die er braucht, und ich, wenn ich wieder am Ufer des Sees bin und in die Blauberge schaue, über denen die Luft so klar und rein ist, dass ein übel riechender Bahnhof in Frankfurt nur wie eine absurde Schaltstelle eines grotesken, weit entfernten Staates erscheint. Und damit ist die Welt wieder in Ordnung, denn wir brauchen sie nicht, und sie brauchen uns nicht, und jeder findet die Erlösung im Vergessen, dass es den anderen gibt.
(Erlitten with a Mac. Aus dem iPad wird nie was.)