Halten Sie ein Glas Wasser und zwei Aspirin bereit, Sie werden es brauchen.
Warum schon wieder eine Silberkanne, lautet die Frage einer lieben Besucherin bei der Ansicht meiner neuesten Rettungsaktion für notleidende Engländer, für deren Silber ich wertlose britische Peseten gebe.
Es wird irgendwann schwer, eine rationale Antwort dafür zu finden. Spätestens, wenn man mit dem Putzen nicht mehr nachkommt, und neben zwei vollen Schränken schon seit einem Jahr eine Kanne für den Sunbeam 90 Mk. III hat, dessen Überführung nach Bayern gerade gescheitert ist. Versuchen wir es also lieber gleich mit einer irrationalen Antwort – glauben Sie mir, wir werden trotzdem gleich wieder den Boden der wohlgesitteten Ratio betreten.
“Das”, sprechen wir es also ungeschminkt aus, “ist nicht direkt begründbar, weil es irrational ist. Kein Mensch braucht ein Dutzend Silberkannen, oder 15 oder 20 oder wieviel es inzwischen sind, egal, es ist irrational. Mindestens so irrational wie der grosse Geschirrschrank Deiner Mutter, meine Liebe. Kein Mensch braucht zehn Service. Und genauso irrational wie die frische Tischdecke, die Du sehen möchtest, selbst wenn die alte nur einen winzigen Fleck hat, den man bestens mit einer der Teekannen überdecken könnte. Es ist teuer, verschwenderisch, und irrational, und obendrein der Ratio der Abgrenzung geschuldet.”
Wir machen zwei in dieser schweren Argumentationslage hilfreich hübsche Plüschaugen auf die Besucherin, bemühen uns um einen freundlichen Ton und heben an, den nur scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Denn wenn wir ehrlich sind, gibt es keinen realen Grund, nicht mit offenem Munde wie in einem Imbiss auf Berlins Kastanienallee im Stile der Internetjünger zu essen, die Ellenbogen wie ein mittlerer Manager auf den Tisch oder in des anderen Körper zu legen, ein Pappteller erfüllt den gleichen Zweck wie feinstes Meissen, man kann Abfall auch einfach liegen lassen, und den grössten Teil ihrer Geschichte benahm sich die Menschheit wie eine Ansammlung von Tieren, und kam dennoch damit durch die Zeiten. Luther etwa hatte widerliche Tischmanieren, was aber erstaunlicherweise keinen Protestanten davon abhält, seinen Thesen zu glauben. Es geht bestens ohne all das, wie zweifelsfrei unter Maos Kulturrevolution, dem Gulag und in den Kerkern dieser Welt bewiesen wurde. In bürgerlicher Freiheit jedoch muss man das Bürgertum und die Freiheit bewahren.
Und das geht nur mit verbindlichen Normen, Riten und Abgrenzungen gegen jene Feinde, gegen das sich das Bürgertum von jeher zu verteidigen hatte. Nachdem das Bürgertum aber für Freiheit zu stehen glaubt, und wir an dieser Stelle so überaus freundlich sind, es in diesem Glauben zu belassen, kann es keinen echten Zwang im Sinne von Gewalt ausüben. Banale Vernunft als Basis des Zusammenlebens wäre zu einfach, da könnte ja jeder kommen. Nachdem aber Riten gemeinhin ohnehin am effektivsten sind, wenn sie gerade nicht Vernunftgründen zugänglich sind, wurden hochgradig irrationale Riten eingeführt, und die wiederum mit etwas Feigenblattlogik kaschiert. Das einst als höchst vernünftig geltende Korsett mag verschwunden sein, und die Taschenuhr der Honoratioren ist an das Handgelenk gewandert, die Unterschiede in der Kleidung der Schichten wurden kleiner, aber die Westviertel, wo die anderen keine Zutritt haben, sehr viel grösser, manches verändert sich, aber der eigentliche Kern, die Irrationalität der Abgrenzungsmechanismen bleibt erhalten.
Silberkannen und Vorlegebesteck sind solche Mechanismen Technisch veraltet, von der Form her meist unpassend, empfindlich, teuer und obendrein mit den alten Eisenklingen oder sensiblen Griffen aus Elfenbein enorm wartungsintensiv, gibt es keinen Grund, sie heute noch zu benützen. Wie auch schon vor 100 oder 200 Jahren. Und das wiederum ist auch der Grund für ihre Existenz: Den Besitzern etwas an die Hand zu geben, das jeder Vernunft widerspricht, hohen Einsatz erfordert, und eine ritualisierte Benutzung. Es dient allein dazu, zwischen dem Benutzer und seinen Gästen ein stillschweigendes Übereinkommen einer verbindlichen inneren Haltung zu schliessen. Man tut es, um dem anderen zu zeigen, dass man es tut, und nicht zu jenen gehört, die es nicht tun können oder wollen. Es ist eine irrationale Handlung zur Durchsetzung rationaler Klassenunterschiede. Und idealerweise wird darüber gar nicht erst nachgedacht, wie wir hier es tun: Man macht es, weil man die höchste Stufe der Irrationalität erreicht hat und es nicht anders kennt. Wie die Prolls mit ihren Billigdönern, nur ganz anders. Die dort, wir hier.
Wer jetzt meint, das seien olle Kamellen und ein Spleen irgendwelcher schlechterer Söhne aus besserem Hause, kennt die modernen Küchentrends nicht: Natürlich wird das Silber nicht überall so ostentativ ausgestellt, wie bei mir daheim angesichts heilloser Überfüllung, aber trotz Fertigessen und leichter Küche wachsen die Küchen und wandeln sich zu Schatzkammern. Vor ein paar Jahrzehnten wäre es undenkbar gewesen, in der Küche einen Kronleuchter zu haben; die letzten meiner Bekannten, die keinen haben, sind auch jene, die mich fragen, ob ich ihnen einen für die Küche beschaffen kann. Holzstiche der Renaissance, Imariporzellan und chinesische Seidenmalereien haben eigentlich nichts in der Küche mit ihren Dämpfen verloren, aber sie gehören längst zum guten Ton. Auch das Essen verlagert sich in die Küche, also zeigt man dort, was man hat. In keiner Phase der bürgerlichen Epoche waren bessere Küchen so prunkvoll wie heute. Das ist für einen Arbeitsraum mit Dreck und Abfällen enorm irrational und bringt einen über kurz oder lang dazu, den Kronleuchter mit rational schwarzen und damit schmutztoleranten Kristallen zu behängen, aber so wird heute die Klassengrenze mitdefiniert. Und ich schäme mich auch kräftig für die elenden Halogenspots über der Arbeitsfläche am Tegernsee – zum Glück bemerkt man sie im Kronleuchterlicht kaum.
Unterwerfung unter Normen wie diese kann nur wirklich dann lustvoll sein, wenn sie nicht rational ist. Rational, seien wir ehrlich, ist die Neonröhre. Wir sind damit im übrigen auch nicht dümmer als andere Epochen des Bürgertums, die für ihre Ratio verschrien sind: Die Epoche der französischen Aufklärung stellte bekanntlich die Vernunft in den Mittelpunkt des Handelns. Um aber nur ja nicht mit Jesuiten und Janseniten in einen Topf zu wandern, gab es unter Aufgeklärten einen – in unseren heutigen Augen nachgerade perversen – Ritus der Obszönität. Man nehme dafür die erotischen Werke von Mirabeau oder Diderot zur Hand; das ist pure Pornographie und selbst im Vergleich zu den alles andere als prüden Memoiren ihrer Zeitgenossen krass überzeichnet. Die angeblich ach so hehre Aufklärung erging sich lustvoll in Beschreibungen des Geschlechtsverkehrs mit Zwölfjährigen, sie machte Witze über Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften. Irrational? Sicher. Aber man dokumentierte damit seine Freiheit.
Ein paar Revolutionskriege und eine Restauration später herrschte stilistisch das bis heute als enorm spiessig geltende Biedermeier in deutschen Landen, eine um alle üppigen Dekore entkleidete Form des Empire. Dichter wurden zensiert und Jakobiner verrotteten in den Gefängnissen, und die Portraits der Bürger jener Zeit zeigen sie uns steif und bieder, angetan in etwas, das man als “altdeutsche Tracht” bezeichnet. Da griff also eine ganze Klasse zurück auf Stilmerkmale des späten Mittelalters, trug wieder Puffärmel und Halskrausen, und drückte damit eine gewisse bürgerliche Haltung aus, die in der formalen Rückschrittlichkeit der Kleidung enorm irrational war. Aber sehr rational im Bestreben, eine antirestaurative Haltung gegen den Adel und das Metternich-Regime auszudrücken, und um sich seinesgleichen erkennen zu geben. Irrational, aber auch sehr romantisch waren sie. Und zart, sagen wir, bewerfen die Besucherin mit unseren Plüschaugenblicken und hauchen ein passendes Gedicht von Heine aus jener fühlenden, zartfühlenden Epoche auf sie, etwa: Mein dunkles Herze liebt dich, es liebt dich und es bricht, und bricht und zuckt und verblutet, aber du siehst es nicht.
Nichts also, fahren wir fort, nichts hat sich in all den Jahrhunderten geändert, wir leben mit den Dünkeln, wir existieren durch die Riten und sterben an banal gebrochenen Herzen, wir sind so, wir unterwerfen uns den Riten und merken es nicht. Hin und wieder ändern wir die Riten, aber an den immer gleichen Kanten unserer Kreise stossen sich die anderen mit immer gleicher Wucht. Der Unterschied allein ist, dass die Unterschicht heute keine mehr ist, oder besser, sich so nicht mehr sieht. Es ist schon erstaunlich, wir sind aus der Kirche ausgetreten und haben den Adel entmachtet und sogar irgendwie die Nazizeit persilscheint, um die verbleibende Elite zu werden, und dann fängt das Pack an, uns nicht mehr so zu kopieren, wie wir mit unseren Irrationalitäten sind, sondern erfindet eigene Irrationalitäten, und erschafft sich eigene Eliten. Es gibt irrationale HipHopper, die im reichsten Flächenstaat dieser Welt wegen ihrer Blocks flennen, es gibt irrationale Studenten, die mit zu vielen und langweiligen Praktika in langweiligen Ländern Führerschaft beanspruchen, es gibt Leute, die bei Castingshows im TV mitfiebern, kostenpflichtig anrufen und deren Ergenbnisse bejubeln, um Teil einer Siegergesellschaft zu werden, es gibt Mobiltelefonnutzer, die 140 Zeichen ins Netz schreiben und sich dafür als Literaten wähnen, und Arbeitsunwillige, die sich für Übermenschen halten, weil sie ihre Realität mit Informationen aus dem Netz anreichern. Sie stolpern bei Wikipedia über jemand namens Luhmann und halten sich schon für Kulturtheoretiker, sie haben keine Lust auf Arbeit und glauben, dass sie ein Recht auf bedingungsloses Grundeinkommen haben, und dann ohne Hunger ganz tolle Programme für die Menschheit schreiben. Und alle glauben, dass man ihren Irrationalitäten zustimmen und sich unterwerfen muss. Alle kennen sie eine eigene Elite, die es geschafft hat und vielleicht sogar mal in der Glotze zu sehen war, und der man deshalb nacheifert. Das muss man tun.
Sonst ist man in den Augen jener, die nicht mal eine Geschichte haben, “antiquiert”, und sie meinen das in ihrer Irrationalität negativ, man verstünde das Neue nicht, habe keine Ahnung von dessen Werte und Normen zertrümmernder Wirkung (Vermutlich würden sie es aber abgehackter und kürzer sagen, und es klänge ein wenig totalitärer, wie der Panzer des Neuen, der über uns hinwegrattert). Tatsächlich aber sind diese Eliten nur Konstruktionen wie alles, was Menschen glauben, und sie können es glauben, solange sie es in ihrem Elitensystem tun, und es mitsamt ihrer Elite nicht an der Realität und ihren Bewertungen messen müssen. Sollte ich je in Schwierigkeiten kommen, wären da draussen Zigtausende, die meine Silberkannen für gutes Geld kaufen würden, aber all die alten CDs, DVDs, iPhones, Programmschreiber und Internetapologeten, wer soll das kaufen, davon gibt es unbegrenzt neuesten Nachschub und keinerlei neuen Markt, schmeisst man eines auf den Müll, drängen sich zehn neue rein. Im Vergleich zu einem Popstar oder Internethanswursten ist die Silberkanne ein bombensicherer und haltbarer Gegenstand, der auch nie in der Gosse endet. Wir sind alle irrational, wir unterwerfen uns eingebildeten Normen, und am Ende kommt es vielleicht wirklich nur darauf an, die richtige Irrationalität zu besitzen, eine lang dauernde, befriedigende Irrationalität, ohne Hektik und Menschen, denen man nicht vorgestellt werden möchte, eine angenehme, nur leicht selbstbetrügende Irrationalität, oder am Besten: Die einzig wahre, die gefährlichste und schönste Irrationalität von allen.
Die Liebe nämlich.
Hier nun lassen wir die Plüschaugen im Schein der Kronleuchter wie altes, mattes Silber erglimmen und