Aber was liegt mir noch an meinem Ruf.
Fabrizio del Dongo in Stendhals Karthause von Parma
Die Schwalbe kann nicht entkommen. Wieder und wieder schiesst sie entlang des Mauerovals, vorbei an Fenstern und Mauervorsprüngen, ganz oben im Treppenturm, aber keine Öffnung bietet sich ihr, um in das grenzenlose Blau des italienischen Himmels zu gelangen. Der kleine Luftakrobat ist gefangen an einem Ort, der wie kein anderer zu seinem Schicksal passt, selbst wenn es einer der bekanntesten Nichtorte der Literaturgeschichte ist: Es ist der Treppenturm des Palazzo della Pilotta in Parma.
Stendhal schrieb seinen berühmten Roman “Die Karthause von Parma” 1838 in nur 52 Tagen nieder, im Kirchenstaat und fern von jenem Ort, in dem die grössten Teile der Handlung zu spielen vorgeben. Dieses Parma kommt im Buch enorm schlecht weg: Es ist eine typische Despotie der nachnapoleonischen Ära, in der die Restauration alle liberalen Tendenzen weggespült hat, und nun von einem Prinzen beherrscht wird, der alle schlechten Eigenschaften des Ancien Regime in sich vereint, ohne dessen Tugenden zu besitzen. Dort findet sich der junge Adlige Fabrizio del Dongo ein, um den Bischofsposten anzutreten, den ihm seine Tante, die Geliebte des Premierministers von Parma, zuschanzen kann. Über eine Frau kommt Fabrizio in Konflikt mit deren Liebhaber, den er in Notwehr tötet. Der Prinz von Parma sieht darin seine Chance, Fabrizios Tante wegen ihrer Zurückweisung seiner Person zu demütigen, und lässt Fabrizio im höchsten Turm seines Herrschaftsgebiets einsperren. Dort erst findet Fabrizio seine wahre Erfüllung in der Liebe zur Tochter des Gefängnisverwalters, und als er mit Hilfe seiner Tante fliehen muss, um sein Leben vor einem Mordanschlag zu retten, bleibt er doch Gefangener seiner Liebe.
52 Tage sind sehr wenig Zeit, um auch nur die Gefangenschaft aller Personen zwischen ihren Leidenschaften und den Zwängen ihrer Epochen zu schildern, und die befreiende Kraft der Liebe. Stendhal arbeitet die Frage nach dem, was “Freiheit” überhaupt ist, ebenso wie die Antwort so kongenial heraus, dass der Roman auch heute noch, unter vielleicht nur scheinbar anderen Bedingungen und Zeitumständen, in seinen menschlichen Dimensionen überzeugend bleibt. 52 Tage reichen nicht aus, um dazu noch die Orte auszuschmücken, aber das macht nichts, denn mit dem Palazzo della Pilotta gibt es in Parma die perfekte, architektonische Entsprechung zu den bedrückenden Zuständen, die im Roman die Menschen nach Freiheit fragen lässt. Von Aussen betrachtet, ist der Palazzo eher eine Zitadelle, und gegen den Fluss schliesst ihn eine Wehrmauer ab. Es ist eine klassische Tyrannenburg der Renaissance, halb gegen das Umland und halb gegen die eigene Stadt gerichtet, kein Herrschaftszentrum, sondern eine Beherrschungsmaschine.
Der Erbauer war der Herzog von Parma und Piacenza, Ottavio Farnese, und er hatte allen Grund, misstrauisch gegen Feinde von Innen und Aussen zu sein. Der Adel von Piacenza hatte seinen Vater ermordet, und er selbst hatte sich Parma erst nach langen Intrigen, Kämpfen und Belagerungen sichern können. All die entzückenden, kleinen und fast kitschigen Paläste von Sabbioneta entstanden gleichzeitig mit dem monumentalen Palazzo della Pilotta gegen 1580, aber grösser könnten die Unterschiede kaum sein: Wer Parma von dieser Seite aus betreten wollte, musste durch schwere, finstere Gewölbe, die mehr an einen Kerker von Piranesi erinnern, als an den Eingang in eine reiche, oberitalienische Stadt, und ihren zentralen Palast. Steht Sabbioneta für die Liebe zur Antike, so ist der Palazzo della Pilotta gebautes Misstrauen, Einschüchterung und Unterdrückung.
Man muss nur zuschauen, wie die Menschen heute durch die Gewölbe und Arkaden eilen, und wie sie ins Freie drängen, wenn es möglich ist: Es ist kein Ort, an dem man gerne ist, weil er den Menschen marginalisiert und abtut. Man mag es in diesem Backsteinzwinger kaum erwarten, aber er enthält exzellente Museen in der Tradition der hier früher ausgestellten Kunstsammlungen der Farnese, deren Eingang ebenso düster, abweisend und streng wie der Rest der Anlage wirkt. Es ist die Brutalität der Aristokratie, die dem Betrachter entgegentritt, es ist eine unverhohlene Machtdemonstration, und die Kultur und die Empfindung sind hier einfach nicht eingeplant worden, selbst wenn die Farnese hier später ihr Theater einbauen liessen – um damit einem Medicifürsten zu imponieren.
Stendhal nennt seinen fiktionalen Prinz von Parma Ranuccio-Ernesto IV., und spielt damit klar auf die hier residierenden späteren und reichlich unfähigen Farnese an, unter denen das Herzogtum im 17. Jahrhundert erstarrte und letztlich in die Hände der Bourbonen gelangte. Seine positiven Helden jedoch sind andere – weit über den normalen Bürgern in Vermögen und Möglichkeiten, aber ausgestattet mit einem Gefühlsleben, das typisch ist für die hereinbrechende, bürgerliche Epoche. Sie arrangieren sich mit gewissen Moralvorstellungen, gehen Scheinehen ein und nehmen Ämter an, die ihren Neigungen widersprechen, und leben ihre Gefühle seitlich davon aus; sie profitieren von den Möglichkeiten des Systems, wünschen aber doch seine Abschaffung. Am Ende sind zwar alle nicht glücklich, weil die Folgen des Systems für alle auch Schuld bedeutet – aber wenigstens ist auch der despotische Fürst tot, und sein Nachfolger verspricht ein leichtere Los für seine Untertanen.
52 Tage nur brauchte Stendhal für sein Buch, die Farnese und ihre Nachfolgern bauten Jahrhunderte an der finsteren Vision ihrer Herrschaft, aber das Buch liest man noch heute gerne, und im Palast sind all die Farben, mit denen man das Elend der Machtarchitektur überpinseln wollte, verblasst und verschwunden. Innerhalb seines schnell durcheilten Hofes im den hohen Mauern werden heute diejenigen geduldet, die jenseits der Gesellschaft sind; die afrikanischen Händler für gefälschte Luxuswaren haben hier ihren Treffpunkt, und auf dem Rasen davor treffen sich am Abend die Jugendlichen, nicht aber in seinem Inneren. Liebende greifen dagegen bis heute zur Karthause von Parma und leiden mit Fabrizio, der sich zwischen seiner persönlichen Freiheit und dem Verlust seiner grossen Liebe entscheiden muss, aber die wahre Meisterschaft liegt vielleicht darin, in einem Buch einen Ort zu erfinden, der am realen Ort immer noch empfinden kann. Hier, möchte man meinen, muss man entschieden haben, Fabrizio im Kerker verrotten zu lassen, selbst wenn man weiss, dass alles nur die Erfindung eines Schwerkranken in 52 Tagen ist.
Man muss die Toskanaungetüme deutscher Westviertel nicht mögen, man kann schon das Biedermeier langweilig finden, und beklagen, dass kein Gefühlsdrama noch so gross ist, dass man es nicht mit einer SMS oder einer Scheidung beenden könnte. Die bürgerliche Gesellschaft errichtet nicht derartige Gebäude, sondern nur scheussliche Sparkassen, sie unterjocht nicht mit niedrigen Gewölben, sondern mit Hartz IV und angeblichen Marktgesetzen, denen sich jeder irgendwie unterwirft, egal wie kritisch er sie betrachtet. Es ist nicht die beste aller möglichen Welten geworden, diese Welt, die einem Fabrizio vielleicht die Erfüllung seiner Liebe versprochen hätte. Aber der Palazzo della Pilotta ist die Welt, aus der das Bürgertum entlaufen ist, wie eine Schwalbe, die den richtigen Ausgang findet, und nicht auf immer eingesperrt ist, wie die steinernen Löwen, die in einem Seitengang hinter Gittern sinnlos ihre Zähne fletschen.