Jo, mia san mim Radl do
(trad.)
Irgendwann hatte ich nicht nur ein Rennrad, sondern mehrere. Ich fuhr damit im Sommer von München in die dumme, kleine Stadt an der Donau, an die Uni und in die Berge. Es war eine schöne Zeit, und hätten nicht Beruf und Heuschnupfen diesem angenehmen Treiben enge Grenzen gesetzt, wäre ich in den letzten Jahren vielleicht auch der Versuchung erlegen, mir mal wieder ein neues Rennrad zu kaufen. Schliesslich verschleissen Räder bei der Benutzung, und irgendwann lohnt sich ein Neukauf mehr, als die entnervende Suche nach Ersatzteilen und lange Reparaturen. So aber blieben sie an meinen diversen Wohnorten erhalten, wurden, jedes für sich, kaum gefahren, und mussten nicht ersetzt werden. Nur interessehalber, und weil zu wenig Zeit für einen Besuch in San Benedetto Po blieb, schaute ich jetzt mal wieder in Novellara in ein Geschäft für Rennräder.
Das hat nur noch wenig mit dem zu tun, was ich heute noch fahre: Vollcarbon statt Stahl oder Aluminium, Schwarz statt Silber, weniger Speichen und mehr Flächen, enorm viele Aufschriften und dicke Rohre. Man kann das machen. Aber ich sah mir das Neueste vom Neuen an, und nahm zwei Erkenntnisse mit: Ich verstehe das alles nicht mehr, angefangen bei der bis ins Letzte ausgereizten Technik über das Material Plastik bis zu den extremen Preisen. Und: Ich würde das nicht kaufen wollen. Es gefällt mir nicht. Natürlich könnte ich damit fahren, es ist immer noch ein Rad; selbst wenn es wie ein Raubtier aus einer anderen Welt wirkt. Ich käme mir trotzdem darauf lächerlich vor. Sie können Carbon loben, wie sie wollen: Für mich ist es Plastik, und damit das gleiche Material wie jenes, aus dem man Einweggeschirr macht. Ich bevorzuge Metall, wie vor 100 Jahren. Wenn es damals ging, geht es heute auch noch.
Dachte ich mir, packte meine Sachen, fuhr über Lugano, den San Bernardino und St. Gallen heim, packte frische Hemden ein und fuhr zurück nach Italien. Nun könnte man das alles natürlich als Starrköpfigkeit eines in die Jahre gekommenen Mannes betrachten, der früher jene Berge hinauf flog, die ihm heute die Vergänglichkeit alles Seienden vermitteln, und der an den Träumen seiner Jugend festhält, die sich mit einem Fahrradschloss tatsächlich halten lassen, und nicht mit zwei Kindern eine unglückliche Ehe mit einem anderen führen. Aber nachdem in Sachen Körperumfang ohnehin alles und jede Hoffnung im Besonderen zu spät ist, hielt ich in Sterzing an, und ging Apfelstrudel kaufen. Gleich neben Prenn ist ein feines Schuhgeschäft. Die führen brandaktuelle Herrensportschuhe mit exakt dem Schnitt, den meine allerersten Rennradschuhe aus den 70er Jahren hatten. Und in Mantua, wo ich gerade logiere, stehen keine Carbonrenner in den Schaufenstern der feinen Läden, sondern Nachbauten alter Herrenräder:
Und die erfüllen fraglos auch die Zwecke der meisten Radfahrer: Sie bremsen, lenken, fahren und sehen nach einem angenehmen, nicht allzu hektischen Dasein aus. Ganz anders als jener bessere Sohn, den ich jüngst in St. Gallen sah, der sein vollkommen neues, 4000 Euro teures Carbonrad durch die Fussgängerzone schob und so abstellte, damit es auch jeder sah. Der junge Mann wollte zeigen, dass er auf der Höhe der Zeit ist, und sie von der Spitze her mit dem schnellsten Gerät beherrscht. Die alten Räder sind dagegen nicht einfach alt, sie stehen ausserhalb der Zeit. Dekaden sind über diese Entwürfe hinweg gegangen, aber sie rollen weiter, werden weiter gebaut, weil ihnen diese Dekaden nichts ausmachen. Das zumindest ist die Botschaft, die Menschen zu solchen Produkten greifen lässt, oder sie gleich dazu bringt, einen Tweed Run (Tweed, der englische Stoff, nicht Tweet, der Infomüll sexuell frustrierter Berliner) zu veranstalten (via).
Nun steht das hier im Internet, der Tweed Run wird im Internet geplant und dokumentiert, es gibt dort Plattenkameras, aber auch viel Digitales. Man kann diesen Nostalgikern nicht vorwerfen, dass sie reaktionär, rückschrittlich, antimodern oder zukunftsfeindlich wären. Ich denke, es ist lediglich eine Abwehrreaktion gegen einige weniger schöne Nebenwirkungen dieser Epoche, in der die Geschwindigkeit in jenem Moment, da sie im realen Leben nicht mehr auf Strassen, Schienen und Luftwegen gesteigert werden konnte, in das Virtuelle ging und alles mit sich gerissen hat: Die jede Aufmerksamkeit wegschwemmenden Informationsflüsse der Medien, die sofort zu beantwortende Email mit ASAP und urgent, die rasend schnellen Updates der Netzwerkbekannten, die updaten müssen, damit sie ein Stück Erinnerung abbekommen, die stetige Erreichbarkeit. Viele wissen vermutlich, dass es nicht attraktiv wirkt, dass die grössten Netzwerkspieler in echt die kleinsten Würste sind, und die Apologeten der Netzzukunft eine miserable Gegenwart mit Billigdöner aus dem Fressnapf haben.
Das war einmal anders, trotzdem fand man auch so Geschlechtspartner und Freunde, das Leben war nicht wirklich schlechter, aber sicher weniger hektisch. Man kann diese Haltung im realen Leben aufzeigen, indem man sich anders darstellt. Manager sind süchtig nach technisch rückständigen, mechanischen Armbanduhren. Junge Menschen greifen zu alten Fahrrädern. Man stellt sich damit ausserhalb des Zeitflusses, man nimmt eine Auszeit, man beweist sich, dass man davon nicht abhängig ist, der Herr der Zeit, der über ihre Geschwindigkeit entscheidet, und nicht getrieben ist. Und die Quintessenz all dessen, das ebenso tapfere wie mangelintelligente Negieren der Notwendigkeit von Anpassung, unter enormen Kosten für zurückgebliebene Technik auf miserablen Strassen bei hoher Ausfallwahrscheinlichkeit, die ganze Kraft der Illusion, sich gegen den Fluss der Zeit stellen zu können – das zu betrachten bin ich nach Italien zurückgekehrt.
Denn es ist der 6. Mai. Und heute beginnt in Brescia die Mille Miglia, wo reiche und weniger reiche Fahrer veralteter, zerbrechlicher Selbstmordmaschinen unter millionenfachem Jubel mässig erfolgreich dem Strassengraben zu entgehen versuchen. Vollkommen idiotisch ist dieses Unterfangen, und so dumm heroisch wie die Überquerung des San Bernardino mit defekter Bremse, aber ich kann da natürlich nicht fehlen, bis Rom und wieder zurück nach Brescia.
Es ist dumm und schön. Natürlich wird man gegen die Zeit nicht gewinnen, denn für das Neue muss das Alte verschwinden, und das geht reichlich schnell, wenn man vor der Engelsburg stundenlang giftige Abgase inhaliert. Aber am Ende stellt sich die Frage, ob man als Sklave der Zeit irgendwann totgepeitscht krepieren möchte, oder ob man die Unausweichlichkeit des Untergangs so stilvoll und angenehm wie möglich ignoriert. Das kann man freihändig am Steuer eines Bugatti bestens tun.
Aber ein altes Fahrrad tut es genauso, und besonders ein guter, alter und sehr langer Kuss auf die Liebste, jenseits der Netzwerke.